„Operation At Large“ – Wie Trumps Migrationskrieg den Rechtsstaat aushebelt

VonRainer Hofmann

Juni 5, 2025

Es beginnt mit einer Zahl – und endet womöglich in einer politischen Zeitenwende. 3.000 Festnahmen pro Tag. So lautete die Anweisung, die Stephen Miller, Donald Trumps einflussreicher Vize-Stabschef und Strippenzieher in Migrationsfragen, Mitte Mai an hochrangige ICE-Funktionäre ausgab. Wer sich nicht fügt, fliegt – das war der Ton. Wer zu wenige „illegale Einwanderer“ verhaftet, wer am unteren Ende der Verhaftungsstatistik rangiert, muss mit der Entlassung rechnen. So berichten es zwei Quellen, die bei dem Treffen dabei waren. Und so beginnt ein Kapitel amerikanischer Geschichte, das sich liest wie ein Sicherheitsdrehbuch aus autoritären Staaten: politisch gelenkte Massenverhaftungen, Quotendruck, die Umwidmung ganzer Bundesbehörden – im Namen einer ideologischen Obsession.

„Operation At Large“ heißt die landesweite Großrazzia, die seit Tagen anläuft – das bislang größte Abschiebeprogramm der Trump-Ära. Über 5.000 Beamtinnen und Beamte aus allen Bundesbehörden, bis zu 21.000 Nationalgardisten sollen beteiligt sein. Der Begriff „Verhältnismäßigkeit“ scheint dabei genauso ausgesetzt worden zu sein wie der Anspruch, Kriminalität nach Schwere und gesellschaftlichem Risiko zu priorisieren. Die neue Migrationsstrategie richtet sich nicht nur gegen Straftäter, sondern explizit gegen Personen ohne Papiere – auch bei rein administrativen Verstößen. Selbst wer nie gegen Gesetze verstoßen hat, kann verhaftet werden – einfach, weil sein oder ihr Visum abgelaufen ist.

Was wie ein logistisch hochkomplexer Einsatzplan klingt, ist in Wirklichkeit Ausdruck eines tiefen Systemumbaus. 3.000 ICE-Agent:innen, darunter 1.800 aus der Homeland Security Investigations-Einheit (eigentlich zuständig für internationale Verbrechen), 2.000 Mitarbeitende aus FBI, DEA und dem U.S. Marshals Service, 500 von CBP, dazu 250 IRS-Beamt:innen, die laut internen Plänen nicht nur Steuerdaten zur Aufenthaltsortbestimmung liefern sollen, sondern zum Teil auch selbst verhaften dürfen. Die Steuerfahndung als Migrationspolizei – ein Albtraum für jede rechtsstaatliche Demokratie.

„Immigration status is now question No. 1“

Ein US-Staatsanwalt bringt es auf den Punkt: „Der Einwanderungsstatus ist jetzt die Frage Nummer eins bei der Anklageerhebung.“ Nicht mehr: Was hat jemand getan? Sondern: Ist er oder sie abschiebbar? Fälle ohne Migrationsbezug bleiben liegen, ganze Ermittlungsgruppen werden aufgelöst, weil sie nicht ins neue Raster passen. Selbst potenziell gefährliche Straftäter werden nicht mehr vom Bund verfolgt – weil ihnen kein aufenthaltsrechtlicher Verstoß nachgewiesen werden kann. NBC News liegt eine interne E-Mail vor, in der eine Staatsanwaltschaft genau diesen Fall dokumentiert. Es ist der Bruch mit dem Grundsatz, dass das Strafmaß durch die Tat bestimmt wird – nicht durch den Pass.

Inzwischen ist das FBI, einst Inbegriff unabhängiger Ermittlungsarbeit, zu einem Erfüllungsgehilfen von ICE-Operationen degradiert worden. Wo früher kriminelle Organisationen, Spionagenetzwerke oder Terrorzellen im Fokus standen, zählen heute vor allem „Zugriffszahlen“. Beamte berichten, sie würden bei Migrationsrazzien eingesetzt, obwohl sie keinerlei Erfahrung in diesem Bereich hätten. Man habe ihnen geraten, sich aus dem operativen Vorgehen möglichst rauszuhalten – insbesondere, wenn es um das Betreten von Wohnungen gehe. Verfassungsrechtlich bedenklich ist das ohnehin. Politisch ist es ein Fanal.

Ein Schattenstaat entsteht

Die Trump-Regierung arbeitet parallel an der Schaffung einer neuen Taskforce unter Leitung von Heimatschutzministerium und Justizministerium. Ziel: gezielte Strafverfolgung gegen transnationale Gruppen – so die offizielle Lesart. Doch das wahre Ziel liegt zwischen den Zeilen. Die Taskforce soll mit Geheimdiensten, dem Pentagon und dem Nationalen Anti-Terror-Zentrum kooperieren – alles für den Kampf gegen „kriminelle Ausländer“. Damit verschwimmen endgültig die Grenzen zwischen Strafverfolgung, Spionageabwehr und Einwanderungspolitik. Ein Schattenstaat formt sich, gelenkt von innen, immun gegen öffentliche Kontrolle.

Zahlen, die fehlen – Angst, die wächst

Offizielle Zahlen zu täglichen Festnahmen werden nicht mehr veröffentlicht. Seit dem 26. Mai verzeichneten Beobachter auf Social Media rund 350 dokumentierte Festnahmen. Doch die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Es ist ein Klima der Angst entstanden – nicht nur unter Migranten, sondern auch unter Jurist:innen, Lehrenden, Arbeitgebern, Nachbarn. Wer hilft, riskiert Repression. Wer schweigt, verliert sich in moralischer Apathie. Die Einwanderungsgesellschaft USA, einst Stolz des Landes, wird unter Trump systematisch zerstört.

Stephen Miller, der Architekt dieser Politik, macht keinen Hehl daraus, dass es um mehr geht als um Recht und Ordnung. Laut Insidern sucht er gezielt nach neuen „Quellen“ für Abschiebungen – zuletzt im Umfeld von 7-Eleven-Filialen und Home-Depot-Märkten. Jeder Ort des Alltags kann zur Zielscheibe werden. Und je größer die Angst, desto leichter lässt sich regieren. Abigail Jackson, Sprecherin des Weißen Hauses, formuliert es euphemistisch: „Einwanderungssicherheit ist nationale Sicherheit.“ Dass die Mordrate in den USA bereits vor Trumps Amtsantritt 2025 rückläufig war, lässt sie dabei elegant unter den Tisch fallen.

Was sich hier abspielt, ist nicht mehr bloß migrationspolitische Strenge – es ist eine ideologisch motivierte Umstrukturierung des Rechtsstaats. Der Blick auf die Verfassung wird ersetzt durch ein Raster aus Loyalität, Status, Abstammung. Und die Frage, ob jemand gefährlich ist, tritt hinter die Frage zurück, ob er oder sie überhaupt hier sein „dürfe“. „Making America Safe Again“ ist längst zur Chiffre geworden – nicht für Sicherheit, sondern für eine Ordnung, in der Herkunft wichtiger ist als Gerechtigkeit, in der die Polizei nicht mehr schützt, sondern aussondert.

Das ist kein Rechtsstaat. Das ist ein Ausnahmezustand mit Aktenzeichen.

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