Oxnard, Kalifornien – Lisa Tate steht am Rand ihres Erdbeerfelds, der Blick schweift über Reihen reifer Früchte, die in der kalifornischen Sommersonne glänzen – unberührt, ungeerntet, dem Verfall nah. „Normalerweise wären hier heute hunderte von Menschen“, sagt sie leise. Doch seit Anfang Juni ist alles anders. Seit die Einwanderungsbehörde ICE ihre Razzien in Ventura County verstärkt hat, ist die Mehrheit der Arbeitskräfte verschwunden. „Ich schätze, 70 Prozent der Leute sind weg. Und wenn 70 Prozent deiner Erntehelfer fehlen, dann verrottet 70 Prozent deiner Ernte – oft innerhalb eines einzigen Tages.“ Tate ist keine Neuling in diesem Geschäft. Ihre Familie betreibt seit sechs Generationen Landwirtschaft in Ventura County, einer Region, die Jahr für Jahr Milliarden an Obst und Gemüse produziert – fast ausschließlich von Hand geerntet, größtenteils von Menschen ohne Papiere. Es ist ein offenes Geheimnis in Kalifornien, dass die Landwirtschaft auf der stillen Arbeit Hunderttausender Einwanderer basiert. Nun aber, inmitten von Präsident Donald Trumps neuerlichen Abschiebeoffensiven, droht das System zu kollabieren.
Wenn man mit Erntehelfern spricht – einige ohne Aufenthaltsstatus –, merkt man die Angst. Einer, 54 Jahre alt, lebt seit 30 Jahren in den USA, hat Frau und Kinder hier. Jetzt vermeidet er jede unnötige Bewegung außerhalb der Arbeit. „Wenn du zur Arbeit gehst, weißt du nicht, ob du deine Familie je wiedersehen wirst“, sagt er. Ein anderer erzählt: „Wir wachen mit Angst auf. Die Sonne, die Hitze – das war früher unser größtes Problem. Heute ist es, dass du nicht zurückkommst.“ Ein mexikanischer Vorarbeiter, der anonym bleiben will, steht am Rand eines Feldes, auf dem bald Erdbeeren gepflanzt werden sollen. Normalerweise arbeiten hier 300 Menschen. Heute sind es 80. Auf einem benachbarten Hof ist die Bilanz noch düsterer: Statt 80 sind nur noch 17 Arbeiter erschienen. Manche Felder bleiben ganz leer, andere werden nur notdürftig bestellt. Viele der fehlenden Hände werden nie ersetzt werden. Die Konsequenzen sind nicht theoretisch. Sie liegen sichtbar in den Feldern, faulen unter der Sonne oder gehen schlicht unter. Greg Tesch, ein Farmer im kalifornischen Zentraltal, sagt es offen: „Wenn die Paprikas nicht innerhalb von zwei, drei Tagen geerntet werden, sind sie verdorben – sonnenverbrannt oder überreif. Wir brauchen diese Arbeitskräfte.“
Die wirtschaftlichen Folgen reichen weit über Kalifornien hinaus. Über ein Drittel aller US-Gemüse und mehr als drei Viertel der Früchte und Nüsse stammen aus dem Bundesstaat. 2023 setzten Kaliforniens Farmen laut Landwirtschaftsministerium knapp 60 Milliarden Dollar um. Doch ohne Erntehelfer – ganz gleich mit welchem Pass – sei dieser Sektor schlicht nicht aufrechtzuerhalten. Douglas Holtz-Eakin, ehemaliger Direktor des Kongresshaushaltsbüros und Republikaner, schätzt, dass rund 80 Prozent der US-Feldarbeiter im Ausland geboren wurden – fast die Hälfte ohne gültige Papiere. Ihre Vertreibung werde zu Lieferengpässen, steigenden Preisen und ökonomischem Schaden führen, sagt er. Zwar berichten einige Hilfsorganisationen, dass viele Arbeiter nach ein paar Tagen wieder zurück aufs Feld kehren – aus reiner Notwendigkeit, weil sie sonst nichts zu essen haben. Doch sie kehren anders zurück. Vorsichtiger. Versteckter. Viele schicken nun ihre US-amerikanischen Kinder zum Einkaufen, um nicht aufzufallen. Andere verzichten auf das Auto und lassen sich von Verwandten mit legalem Status zur Arbeit bringen. Manche geben ganz auf. Donald Trump selbst räumte Anfang Juni auf seiner Plattform Truth Social ein, dass ICE-Razzien „sehr gute, langjährige Arbeiter“ aus der Landwirtschaft und der Hotelbranche verdrängen würden – „Arbeitsplätze, die kaum zu ersetzen sind“. In einem späteren Pressestatement sagte er: „Unsere Farmer leiden. Sie haben sehr gute Leute. Sie sind keine Staatsbürger, aber sie haben sich als großartig erwiesen.“ Eine politische Konsequenz folgte daraus bislang nicht. Ein angekündigtes Dekret, das die Auswirkungen abmildern soll, bleibt bislang aus. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Anna Kelly, verteidigte dennoch die Linie des Präsidenten: „Er wird die Landwirtschaft weiter stärken und Exporte fördern – und gleichzeitig seine Versprechen zur Durchsetzung der Einwanderungsgesetze einhalten.“ Die Wirkung der Maßnahmen geht längst über die betroffenen Personen hinaus. „Selbst Leute mit Papieren fühlen sich nicht mehr sicher, wenn sie ICE hören“, sagt Greg Tesch. „Jeder weiß, dass unsere Nachbarschaften ein Mix sind – mit und ohne Dokumente. Diese Unsicherheit ist überall.“ Auch Ökonom Bernard Yaros von Oxford Economics bestätigt: Amerikanische Staatsbürger füllen diese Arbeitsplätze nicht nach. „Einheimische arbeiten in ganz anderen Berufen. Diese Lücke wird nicht geschlossen werden.“ Kaliforniens Landwirtschaft war lange ein Balanceakt zwischen ökonomischer Notwendigkeit und rechtlicher Grauzone. Nun droht das Netz zu reißen. „Wenn das so weitergeht, werden viele Betriebe bankrottgehen“, sagt Lisa Tate. „Und dann? Dann gibt es bald keine lokalen Erdbeeren mehr. Dann kommen sie aus Mexiko. Ironischerweise von denselben Händen, nur eben auf der anderen Seite der Grenze.“