Eine Erinnerung aus Fechenheim.
Ich erinnere mich an ein Pferd. Ein weißes, stilles Tier mit dem Gang einer alten Seele, das Tag für Tag durch die Straßen von Frankfurt-Fechenheim schritt – nicht geführt, nicht getrieben, nicht überwacht. Einfach da.
Jenny.
Ein Araberpferd, dem irgendwann jemand ein Schild umhängte:
„Ich heiße Jenny, laufe nicht weg, gehe nur spazieren. Danke.“
Als ob das die ganze Wahrheit wäre. Doch vielleicht war sie es.
Denn Jenny lief wirklich nicht weg. Weder vor sich selbst noch vor der Welt. Sie ging – mit ruhigem Blick, mit leisem Schritt, durch die gleiche Stadt, in der Menschen einander ausweichen, hetzen, fliehen. Jenny aber war angekommen. Immer schon.
Ihr Besitzer, Werner Weischedel, konnte nicht mehr reiten, und so übernahm Jenny den Spaziergang. Sie erinnerte sich an den Weg, so wie wir uns an unsere Kindheit erinnern, an vertraute Straßenecken, an das Geräusch von Schritten auf nassem Asphalt. Es war kein Widerstand, kein Protest, es war ein Ritual.
Ein stiller Tanz mit dem Tag.
Die Menschen in Fechenheim grüßten sie wie eine alte Freundin. Kinder hielten ihre Hände hin, in denen Möhren lagen, manche hielten einfach nur den Atem an. Polizisten nickten ihr zu. Die Bäume warfen ihre Schatten auf sie wie auf etwas Heiliges. Es war, als würde Jenny einen Raum öffnen, in dem alles einen Moment lang leichter wurde. Sie ging nicht einfach durch die Straßen. Sie durchmaß eine Welt, in der Vertrauen noch möglich war.
Manchmal frage ich mich, ob sie nicht mehr gesehen hat als wir. Sie, das Pferd. Ohne Eile. Ohne Ziel. Ohne Angst.
In einer Welt, in der man Kontrolle mit Freiheit verwechselt, ließ Jenny sich nicht halten – und musste es auch nicht.
Im März 2022 ging sie nicht mehr los. Der Krebs, sagen sie.
Vielleicht. Ich sehe sie manchmal noch. Nicht mit den Augen. Sondern mit der Erinnerung, die leise ist wie ihr Schritt. Und wenn ich in Eile bin, wenn ich mich verliere, dann höre ich sie wieder:
„Ich heiße Jenny, laufe nicht weg, gehe nur spazieren.“
Vielleicht sollten wir das alle mal wieder tun
Rainer