Ein Verdacht genügt – Ohio erlaubt ICE die Jagd auf Migranten und Tourist:innen im öffentlichen Raum

VonRainer Hofmann

Juni 23, 2025

Es ist ein Gesetz, das wie aus einer anderen Zeit wirkt – aus einer Zeit, in der Rechte nicht geschützt, sondern verdächtigt wurden. In Ohio hat der republikanisch dominierte Senat dem Gesetzesentwurf S.B. 172 zugestimmt. Ein Gesetz, das der US-Einwanderungsbehörde ICE gestattet, Menschen auf offener Straße festzunehmen – nicht aufgrund von Beweisen, nicht einmal konkreter Hinweise, sondern schlicht auf Verdacht, sie könnten sich „illegal“ im Land befinden. Die Bestimmungen sind weitreichend und tiefgreifend. Sie erlauben es ICE-Beamten, Verhaftungen überall dort durchzuführen, wo sich Menschen aufhalten – auf Schulhöfen, in Gerichtssälen, in öffentlichen Bibliotheken, in Krankenhäusern. Besonders beunruhigend: Das Gesetz verbietet ausdrücklich, dass sich lokale Behörden oder Justizangehörige in diese Einsätze einmischen. Selbst Richterinnen und Richter dürfen nach Inkrafttreten von S.B. 172 nicht mehr einschreiten, wenn ICE Menschen mitten aus einer Verhandlung herausgreift. Wer es dennoch tut, macht sich strafbar.

Einwanderungsanwältinnen und Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm. Carmen Nuñez, eine der führenden Stimmen im juristischen Widerstand gegen das Gesetz, findet klare Worte: „Das ist ein Gesetz über Rassenprofiling. Man kann einem Menschen nicht ansehen, ob er Papiere hat oder nicht – aber genau das wird jetzt zur Grundlage von Verhaftungen gemacht.“ Auch in der demokratischen Opposition im Bundesstaat ist die Empörung groß. Senatorin Allison Russo warnt vor einem Klima der Einschüchterung: „Es geht hier nicht um Sicherheit. Es geht um Angst. Um Kontrolle. Und um das Signal: Ihr gehört nicht dazu.“ Die republikanischen Befürworter des Gesetzes versuchen unterdessen, S.B. 172 als bloße Unterstützung des Bundesrechts darzustellen. Man wolle lediglich bestehende Einwanderungsgesetze durchsetzen, heißt es aus dem Büro des Initiators Terry Johnson. Doch diese Rechtfertigung überzeugt kaum jemanden, der in den letzten Jahren erlebt hat, wie ICE-Razzien abliefen: Mit Sturmhauben, Maschinenpistolen, undurchsichtigen Listen – und immer öfter mit Kollateralschäden. Allein 2024 dokumentierten zivilgesellschaftliche Gruppen über 50 Fälle in Ohio, in denen US-Bürger lateinamerikanischer Herkunft irrtümlich festgenommen wurden. Weil sie Spanisch sprachen. Weil sie in der Nähe standen. Weil sie den „falschen“ Nachnamen trugen.

Jurist:innen sehen in dem Gesetz eine offene Provokation gegenüber der Verfassung. Es höhle das Prinzip der Unschuldsvermutung aus, ignoriere das Diskriminierungsverbot und greife direkt in die Gewaltenteilung ein, indem es Richter:innen faktisch entmündige. Dennoch dürfte das Gesetz, wenn es auch das Repräsentantenhaus passiert, in Kraft treten – und damit zum Präzedenzfall für weitere Bundesstaaten werden, die auf Trumps Linie der harten Hand einschwenken. In Columbus, Dayton und Cleveland sind bereits Proteste angekündigt. Viele Schulen haben in offenen Briefen angekündigt, ICE keinen Zugang zu ihren Gebäuden zu gewähren – wohl wissend, dass sie sich damit in die Illegalität begeben könnten. Doch für viele ist das Risiko geringer als die Alternative: zuzusehen, wie Schüler:innen im Klassenzimmer verhaftet werden, weil jemand sie für „illegal“ hält. Und auch Tourist:innen sind nicht geschützt – wer sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält, mit dem „falschen“ Aussehen oder Pass, gerät ebenso schnell ins Visier wie die Bewohner:innen des Landes selbst. Es ist ein Gesetz, das nicht mehr fragt, wer du bist – sondern nur noch, für wen dich jemand hält. Ein Verdacht reicht. Und die Freiheit wird zur Hypothese.

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