Los Angeles, 9. Juni 2025, 3:00 Uhr (MEZ 12:00 Uhr)
Es war bereits der Abend des 6. Juni, als sich erste Proteste formierten und die Razzien begannen, doch die Nächte vom 7. bis auf den 9. Juni brachte die erste offene Eskalation. ICE-Agenten riegelten Straßenzüge ab, verhafteten Dutzende Migrantinnen und Migranten im Fashion District, in Parkhäusern von Home-Depot-Filialen und auf offener Straße. Die Bilder aus Los Angeles erinnerten an Szenen, die man eher aus autoritär geführten Staaten kennt. Und genau das ist es, was dieser Juni markiert: den Moment, in dem sich eine freie Stadt gegen die Vereinnahmung durch eine Bundesregierung wehrt, die ihre Befugnisse überschreitet.



Was in Los Angeles geschah, war keine plötzliche Eskalation, sondern das Ergebnis dreier Tage zunehmender Spannungen. Bereits am Freitag begannen Proteste gegen die Razzien, am Samstag kam es zu ersten Auseinandersetzungen in Paramount und Compton. Doch es war der Sonntag, an dem die Lage vollends entglitt. Die Nationalgarde marschierte auf. Tränengas über Downtown. Vier Waymo-Taxis brannten lichterloh. Und auf Truth Social veröffentlichte Donald Trump eine Nachricht nach der anderen:
„Es sieht wirklich schlimm aus in L.A. HOLT DIE TRUPPEN!!!“ (40 Minuten zuvor) „VERHAFTET DIE MENSCHEN MIT GESICHTSMASKEN, SOFORT!“ (37 Minuten zuvor) „Gouverneur Gavin Newsscum und ‚Bürgermeisterin‘ Bass sollten sich bei den Menschen in Los Angeles entschuldigen… Das hier sind keine Demonstranten, sondern Aufständische. MERKT EUCH: KEINE MASKEN!“ (10 Minuten zuvor)

Gouverneur Gavin Newsom hatte wenige Stunden zuvor noch schriftlich gegen den Einsatz der Nationalgarde protestiert. „Dies ist ein absichtlicher Bruch der bundesstaatlichen Souveränität.“ Los Angeles‘ Bürgermeisterin Karen Bass sprach in einer Pressekonferenz am Nachmittag von einer „gezielten Provokation, nicht von einem sicherheitsrelevanten Einsatz“. Doch der Befehl war bereits unterzeichnet: 2.000 Soldaten der kalifornischen Nationalgarde wurden Donald Trumps Anweisung unterstellt – ohne Zustimmung des Bundesstaates. Das hat es in dieser Form zuletzt 1965 gegeben.
Auf den Straßen war die Botschaft klar: Die Menschen hatten keine Angst mehr. Vor dem Metropolitan Detention Center riefen sie: „Schande! Geht nach Hause!“ Als sich die Gardisten näherten, flogen Stühle, E-Roller, Zementsplitter. Auf der 101 wurden Polizeifahrzeuge mit Steinen und Feuerwerkskörpern attackiert. Die Südfahrbahn musste geschlossen werden.
Am Abend des 8. Juni postete das LAPD Central Division ab 21 Uhr: „Demonstrierende haben den Bereich LA Live erreicht und blockieren alle Spuren der Figueroa und 11th Street. Eine UNRECHTMÄßIGE VERSAMMLUNG wurde für die Innenstadt von Los Angeles ausgerufen. Bitte verlassen Sie das Gebiet unverzüglich.“

Eine Stunde später: „Geschäftsinhaber melden Plünderungen im Bereich 6th Street und Broadway. Unsere Einsatzkräfte sind auf dem Weg.“ Und kurz vor Mitternacht: „Ganz Downtown Los Angeles wurde zur unrechtmäßigen Versammlungszone erklärt. Bitte entfernen Sie sich aus dem Gebiet. Agitatoren haben sich in ganz Downtown verteilt. Anwohner, Geschäfte und Besucher sollen wachsam sein.“
LAPD-Chef Jim McDonnell sprach am späteren Abend von einem „erschütternden Kontrollverlust“. „Unsere Beamten wurden mit Molotowcocktails beworfen. Es ist zunehmend lebensgefährlich da draußen. Heute Nacht wurden Feuerwerkskörper kommerzieller Klasse auf Beamte abgeschossen, die tödlich hätten sein können.“ Doch Gewalt ist nicht der Anfang, sie ist das Resultat. Wer verstehen will, was Los Angeles erschüttert, muss wissen, was Los Angeles vorenthalten wurde: Rechtsschutz. Gehör. Verhältnismäßigkeit.

Kamala Harris schrieb am frühen Abend: „Diese Festnahmen und diese Entsendung der Nationalgarde sind Teil eines grausamen, kalkulierten Plans, der Angst säen und das Land spalten soll. Ich unterstütze alle, die sich für unsere grundlegenden Rechte und Freiheiten einsetzen.“
Seit Freitagabend fühlen wir uns wie im Krieg – und die Gewalt muss aufhören. Der Weg, der jetzt eingeschlagen wurde, ist falsch und spielt Donald Trump direkt in die Hände. Die Wut der Straße ist der sichtbare Teil einer politischen Entfremdung. Was Trump in Los Angeles plant, ist ein Testlauf für das, was er am 14. Juni verhindern will: Überparteiliche Massenproteste in allen 50 Bundesstaaten. Koordiniert von NGOs, Universitäten, Glaubensgemeinschaften, Einwanderungsinitiativen und Gewerkschaften. Es ist der vielleicht größte Protesttag seit Jahrzehnten. Und es ist exakt dieser Tag, den Trump rhetorisch bereits jetzt zu delegitimieren versucht: Wer aufsteht, wird kriminalisiert. Wer demonstriert, wird entmenschlicht. „Aufrührer. Kriminelle. Linksradikale.“

Doch Los Angeles ist kein Einzelfall. Es ist der Anfang einer nächsten politischen Phase. Und es zeigt, dass sich ein Staat gegen die Verfassung richten kann, wenn niemand ihn daran hindert. Dass dabei Geschäfte brennen, geplündert werden, ist vollkommen daneben. Dass Polizeifahrzeuge explodieren, falsch. Aber dass ein Präsident sein eigenes Volk auf der Straße angreift, ist der eigentliche Skandal.


Der 14. Juni steht bevor. Vielleicht ist Los Angeles nicht der Ort, an dem er verhindert wird. Aber es ist der Ort, an dem man sieht, dass man ihn fürchtet.
(Photos, Reuters, Ringo Chiu, Eric Thayer, Kaizen Blog)