Die Liste der Toten – Wie der KGB über Grenzen hinweg mordete und Putins Russland diese Praxis fortführt

VonRainer Hofmann

Juni 7, 2025

Es beginnt nicht mit Skripal. Es endet nicht mit Nawalny. Wer glaubt, die politische Mordlust des Kreml sei eine Laune der Gegenwart, eine bloße Pathologie Wladimir Putins, der irrt nicht – aber er irrt zu kurz. Denn die Geschichte jener Menschen, die Russland verließen, weil sie dem Staat entkommen wollten – nur um am Ende doch von seiner Hand erschlagen zu werden –, ist keine neue. Sie ist ein System. Eine Tradition. Eine Botschaft, tief eingespeist in das Blutarchiv eines Geheimdienstes, der nie verschwand, sondern nur sein Kürzel wechselte.

Emigration schützt nicht. Sie markiert.

Seit den Tagen der Bolschewiki ist der Verräter der wahre Feind. Der Abweichler, der Emigrant, der Überläufer – er trägt nicht nur Schuld, er ist Schande. Und Schande duldet Moskau nicht. Schon in den 1920er-Jahren entführten sowjetische Agenten Exil-Generäle wie Alexander Kutepow oder Yevgeny Miller. 1940 tötete ein von Stalin beauftragter Attentäter den Revolutionär Leo Trotzki in Mexiko. Die Sowjetunion zeigte der Welt, was sie unter Souveränität verstand: Ihre Feinde blieben Feinde – egal, wo sie lebten.

Der KGB perfektionierte das Prinzip.

Was einst improvisiert war, wurde später Struktur. Die „13. Abteilung“ des KGB – zuständig für sogenannte Exekutivaktionen – war mehr als nur ein Killerkommando. Sie war Teil eines komplexen Apparats, der politische Gegner jenseits des Eisernen Vorhangs verfolgte, vergiftete, entführte, diskreditierte. Im Verbund mit der bulgarischen DS, der ostdeutschen Stasi oder dem tschechoslowakischen Sicherheitsdienst ließ der KGB Oppositionelle verschwinden – nicht nur physisch, sondern auch symbolisch. Die Botschaft war eindeutig: Moskau sieht dich. Moskau vergisst nicht. Moskau verzeiht nicht.

Die Methoden: Gas, Gerüchte, Geiseln.

Die Waffen waren vielfältig – und meist geräuschlos. Ricin, Zyankali, Thallium. Gifte, die töten, ohne zu sprechen. Regenschirme mit Nadelspitzen, Kugelschreiber mit Gasdüsen, vergiftete Getränke, manipulierte Radios. Das Arsenal der sowjetischen Giftmischer war ein Labor der Moderne – und zugleich ein Museum der Angst.

Doch nicht alle Angriffe endeten tödlich. Oft genügte das Wissen um die ständige Bedrohung. Dissidenten wussten: Sie waren in Abwesenheit zum Tod verurteilt. In Berlin, Wien, London – überall warteten Schatten auf sie. Wer Glück hatte, wurde diskreditiert, nicht getötet. Wer Pech hatte, verschwand. Oder starb, offiziell an Herzversagen. In Wahrheit aber an Staatsraison.

Die Toten: Stepan Bandera, Georgi Markov, Nikolai Artamonov.

1957 stirbt der ukrainische Nationalist Lev Rebet auf einer Treppe in München – später stellt sich heraus: Er wurde mit Cyanidgas ermordet, das aus einem kleinen Pistolengerät versprüht wurde. Zwei Jahre später trifft es Bandera – gleiche Methode, gleicher Täter: Bohdan Stashynsky, ein sowjetischer Agent, der später in den Westen flieht und den Mord in allen Details gesteht. Die Bundesrepublik klagt die Sowjetunion an – ein diplomatischer Eklat.

1978 stirbt Georgi Markov in London. Der Schriftsteller hatte Bulgariens Regime kritisiert. Seine Mörder schossen ihm mit einem manipulierten Regenschirm eine Ricinkapsel ins Bein. Ein Kunstmord in der Fußgängerzone – und ein Fall, der nie offiziell aufgeklärt wurde, obwohl alles auf den KGB hindeutete.

Und dann ist da der Fall Artamonov alias Shadrin, ein sowjetischer Marineoffizier, der für die USA arbeitete – 1975 verschwindet er in Wien, entführt von sowjetischen Agenten. Die offizielle Version: Herzversagen bei der Rückführung. Die inoffizielle: Ein Racheakt mit System.

Das Netzwerk der Angst.

Der KGB operierte nicht allein. Er nutzte Allianzen. Bulgarische Geheimdienste erledigten das Handwerk, Stasi-Leute lieferten Logistik, eingeschleuste Agenten in Kirchen, Medien und Migrantenorganisationen sorgten für Zersetzung und Desinformation. Der sowjetische Geheimdienst infiltrierte sogar Redaktionen von Radio Free Europe. Er fälschte Briefe, konstruierte Biografien, pflanzte „Nazivergangenheiten“ in Lebensläufe. Wer nicht getötet wurde, sollte wenigstens unmöglich gemacht werden.

Die Archive schweigen. Die Spuren nicht.

Zwar wurde 1992 von Boris Jelzin angekündigt, die Archive zu öffnen. Doch die Dossiers zu politischen Morden blieben verschlossen. Nur dank Überläufern wie Nikolai Khokhlov oder Oleg Kalugin wurde ein Teil des Netzes sichtbar. Khokhlov, einst selbst Teil eines Mordkommandos, warnte sein Opfer – und wurde daraufhin selbst mit Thallium vergiftet. Kalugin gestand später öffentlich die Operation gegen Markov. Und dann ist da noch das Mitrochin-Archiv – ein Schatz an Beweisen, herausgeschmuggelt von einem ehemaligen KGB-Archivar. Darin: Pläne, Namen, Ziele. Nur ein Bruchteil wurde je veröffentlicht.

Und heute?

Die Namen haben sich geändert – der FSB ist nicht der KGB, aber seine DNA ist identisch. Die Methoden sind dieselben. Die Liste lebt weiter. Marsalek, Grozev, Dobrokhotov – die Fälle der letzten Jahre erinnern fatal an die Vergangenheit. Auch sie werden beschattet, bestohlen, eingeschüchtert. Auch bei ihnen kommt die Gefahr über Umwege: über bulgarische Netzwerke, über digitale Spuren, über Mordpläne, die wirken wie aus einem sowjetischen Drehbuch.

Man denke an Alexander Litwinenko, vergiftet 2006 in London mit Polonium-210 – eine Tat, die ein britisches Gericht später direkt Putin zuordnete. Oder an Sergei Skripal, der 2018 in Salisbury mit dem militärischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde – überlebte, aber nur knapp, gemeinsam mit seiner Tochter. Oder an Alexei Nawalny, dessen Anschlag im Jahr 2020 erneut das tödliche Potenzial sowjetischer Chemiewaffen offenbarte: auch hier Nowitschok, diesmal wohl aufgetragen über Kleidung oder Trinkflasche, durch eine Spezialabteilung des FSB – das sogenannte Zentrum 34435.

Oleg Kalugin, einst selbst Teil des Systems, sagte später: „Der KGB war nie Nachrichtendienst, sondern politische Waffe mit Lizenz zum Töten.“ Und Christo Grozev von Bellingcat, einer der meistbedrohten Aufdecker dieser Strukturen, bringt es auf den Punkt: „Die Methoden sind dieselben. Nur die Technik hat sich verändert.“

Putins Russland hat die KGB-Schule nie verlassen. Es hat sie perfektioniert – mit neuer Technik, aber alter Logik. Jeder Feind des Systems ist ein Verräter. Und jeder Verräter ist ein Ziel – ob in London, Berlin oder Los Angeles.

Die Liste ist nicht abgeschlossen.

Sie atmet weiter. Sie schweigt nicht.Sie droht – in jeder Silbe, in jedem Unfall, in jedem „Natürlichen Tod“, der keiner war.

Denn Moskau sieht.Moskau vergisst nicht. Moskau verzeiht nicht.

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