Atlanta, 25. Juni 2025 – Es war eine Premiere unter Hochspannung. Zum ersten Mal tagte am Mittwoch das neu besetzte Impfkomitee der US-Gesundheitsbehörde CDC – unter der Leitung jenes Mannes, der sich jahrzehntelang als Gegner etablierter Impfprogramme profilierte: Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. Der Rahmen: ein kahler Konferenzraum in Atlanta. Die Wirkung: ein tektonischer Riss im öffentlichen Gesundheitswesen der Vereinigten Staaten. Noch bevor das Gremium überhaupt zur Diskussion kam, war die Richtung bereits vorgegeben. Kennedy hatte alle 17 bisherigen Mitglieder des „Advisory Committee on Immunization Practices“ (ACIP) kurzerhand entlassen. Die Neubesetzung besteht nun zu großen Teilen aus Impfkritikern, darunter bekannte Stimmen wie Dr. Robert Malone und Dr. Martin Kulldorff. Letzterer eröffnete die Sitzung mit einer Rede, die zugleich fachlich routiniert und ideologisch gesättigt wirkte – ein Stil, der symptomatisch für die neue Ausrichtung war. Die Tagesordnung war brisant: Kennedy hatte bereits im Vorfeld angekündigt, COVID-19-Impfungen nicht länger für gesunde Kinder und Schwangere zu empfehlen – ein Schritt, der scharfe Kritik auslöst. Offiziell wurde dazu keine Abstimmung angesetzt. Doch das CDC hatte seine Unterlagen vorbereitet: darin die klare Aussage, dass Impfungen während der Schwangerschaft der wirksamste Schutz für Säuglinge unter sechs Monaten seien – jene Altersgruppe, die weiterhin besonders gefährdet ist. Auch die Bilanz der vergangenen Monate zeigt, dass ein Großteil der hospitalisierten Kinder ungeimpft war. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, doch die neue politische Linie übertönt sie.
Gleichzeitig sorgte ein weiterer Rücktritt für Unruhe: Der Gynäkologe Dr. Michael Ross trat kurz vor Sitzungsbeginn zurück – angeblich aufgrund einer „routinemäßigen Prüfung finanzieller Interessen“. Damit schrumpfte das Komitee auf nur sieben Mitglieder – ein symbolträchtiger Niedergang eines wissenschaftlichen Gremiums, das jahrzehntelang Impfstandards für die USA setzte und damit auch international tonangebend war. Die American Academy of Pediatrics zog noch während der Sitzung ihre Konsequenz: Sie werde künftig einen eigenen Impfkalender veröffentlichen, unabhängig vom ACIP. Die Begründung: Der Prozess sei „nicht länger glaubwürdig“. Worte, die wie ein Ritterschlag für die Wissenschaft wirken – und wie ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung. Die Sitzung offenbarte ein grundlegendes Dilemma der neuen US-Gesundheitspolitik: Expertise wird durch Gesinnung ersetzt, Diskussion durch Misstrauen, öffentliche Gesundheit durch politische Identität. In einer Anhörung im Repräsentantenhaus verteidigte Kennedy sein Vorgehen offensiv. Das alte Gremium sei „ein Fallbeispiel für medizinisches Fehlverhalten“ gewesen. Die Demokratin Kim Schrier, selbst Kinderärztin, konterte mit bitterer Schärfe: „Ich werde Ihnen jede einzelne impfpräventable Todesursache anlasten.“
Auf der Agenda standen am zweiten Tag auch Schutzmaßnahmen gegen RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus) – eine Infektion, die besonders für Säuglinge gefährlich ist. Bereits 2023 hatte die CDC präventive Maßnahmen für Neugeborene und schwangere Frauen eingeführt, die nachweislich die Sterblichkeitsrate senkten. Doch wie mit neuen Empfehlungen zu verfahren sei, blieb offen. Auch eine neue Antikörpertherapie wurde vorgestellt – der genaue Abstimmungstext blieb jedoch bis zuletzt unter Verschluss. Am Donnerstag soll es zudem um Influenzaimpfstoffe gehen – ein Thema, das bislang routiniert behandelt wurde. Doch diesmal ist alles anders. Denn Kennedy und einige seiner Unterstützer haben den enthaltenen Konservierungsstoff Thimerosal in der Vergangenheit mit Autismus in Verbindung gebracht – ein längst widerlegter Mythos, der in wissenschaftlichen Kreisen als Paradebeispiel für Falschinformationen gilt. Die CDC veröffentlichte eigens zum Anlass der Sitzung eine neue Übersichtsstudie, die jeden Zusammenhang mit neurologischen Störungen erneut ausschließt. Und doch scheint selbst das nicht mehr zu genügen. Was früher Konsens war, ist nun strittig. Empfehlungen, die bislang medizinisch begründet waren, müssen heute ideologisch „bestehen“. Die ACIP-Empfehlungen waren stets Grundlage für Versicherungsschutz und flächendeckende Impfangebote – doch die CDC hat derzeit keine Direktorin. Deshalb gehen sämtliche Vorschläge nun direkt an Kennedy – und der hat bereits mehrere Empfehlungen vom April schlicht ignoriert. Susan Monarez, seine Wunschkandidatin für den vakanten CDC-Vorsitz, stellte sich just am Mittwoch einer Anhörung im Senat. Ihre Ausweichmanöver bei zentralen Fragen zur wissenschaftlichen Integrität lassen wenig Raum für Hoffnung auf Unabhängigkeit. Der Wandel ist längst nicht mehr nur spürbar, er ist systemisch. Der öffentliche Gesundheitsdienst der Vereinigten Staaten wird unter dem Deckmantel der Reform ideologisch restrukturiert – und Millionen Amerikaner:innen könnten dafür den Preis zahlen.
Kleiner Schreibfehler, der Inhaltsstoff nennt sich Thiomersal
Thimerosal (auch bekannt als Thiomersal) ist eine quecksilberhaltige organische Verbindung, die als Konservierungsmittel in einigen Impfstoffen, Augentropfen und anderen medizinischen Produkten verwendet wurde. Der chemische Name lautet Ethyl(2-mercaptobenzoato-(2-)-O,S)quecksilber(II), und sie enthält etwa 49 % Quecksilber nach Gewicht.
Thimerosal → amerikanisches Englisch (z. B. CDC, FDA)
Thiomersal → britisches Englisch und Deutsch