Verlorene Zeit – Wie Michael Kretschmer den deutschen Klimakonsens aufkündigt

VonKatharina Hofmann

Juni 2, 2025

Es sind Worte, die wie aus einer anderen Ära klingen. Während Europa unter Hitzewellen ächzt, Extremwetterereignisse die Ernte vernichten und Versicherungen den Rückzug aus ganzen Regionen ankündigen, schlägt Michael Kretschmer einen anderen Ton an: Deutschland, so der Ministerpräsident Sachsens, müsse nicht 2045 klimaneutral sein. 2050 genüge. Wachstum vor Wandel, lautet seine Formel – eine, die gefährlich rückwärtsgewandt ist. Kretschmer betreibt, was man politisch als Revisionismus der Verantwortung bezeichnen muss. Im Interview mit der WirtschaftsWoche stellt er das seit März im Grundgesetz verankerte Klimaziel offen infrage. Das Argument: Energiesicherheit, Wettbewerbsfähigkeit, soziale Finanzierungsnotwendigkeiten. Es ist das altbekannte Mantra der Verzögerer, eingekleidet in die Rhetorik wirtschaftlicher Vernunft.

Doch hinter dieser Rhetorik verbirgt sich mehr als Skepsis – es ist eine systematische Demontage. Bereits 2023 relativierte Kretschmer die deutsche Rolle im Weltklima, verwies auf den vergleichsweise geringen Emissionsanteil – als sei der moralische Anspruch eines Industrielands mit 80 Millionen Einwohnern dadurch erledigt. Kritik folgte prompt, insbesondere von Fridays for Future, die ihm mangelnden Weitblick und „einen Ausverkauf der ökologischen Zukunft“ vorwarfen. Im Jahr 2025 treibt Kretschmer diese Linie nun mit kalkulierter Deutlichkeit weiter. Der Windkraftausbau sei „zu schnell“, die Zahl negativer Strompreis-Stunden ein Zeichen für Überproduktion – dabei ignoriert er, dass genau solche Preissignale Ausdruck eines Übergangsprozesses sind, der nur mit strategischem Netzausbau und Speicherlösungen entschärft werden kann. Was Kretschmer stattdessen liefert, ist ein Popanz: Als müsse Sachsen sich vor sauberem Strom schützen.

Und wieder einmal wird der Braunkohleausstieg bemüht – das ewige Gespenst der angeblichen Überforderung. Kretschmer spricht von Wohlstandsvernichtung, wo andere von Transformation sprechen. Von Tempo als Problem, nicht als Antwort auf eine eskalierende Krise. Dass Deutschland den Strukturwandel gerade in ostdeutschen Regionen mit Milliarden absichert, bleibt in seiner Erzählung ausgeblendet. Diese Haltung ist kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Musters: Sachsens Regierung hat im gesamten ersten Quartal 2025 gerade einmal zwei neue Windräder genehmigt – ein Armutszeugnis in einer Zeit, in der jede Kilowattstunde zählt. Statt Lösungen zu fördern, pflegt Kretschmer das Bild des überforderten Bürgers, der vom Klimaschutz angeblich überrollt werde. Ein Bild, das populistisch anschlussfähig ist – und deshalb gefährlich.

Denn es verkennt, was auf dem Spiel steht. Klimaneutralität ist keine Ideologie, sondern eine Notwendigkeit. Die ökonomischen Kosten des Nichthandelns übersteigen bereits heute die Kosten der Umstellung. Jeder Monat, den Deutschland auf dem Bremspedal steht, ist ein Monat, den sich kommende Generationen nicht mehr leisten können. Michael Kretschmer mag sich selbst als Stimme der Realisten sehen. Tatsächlich aber reiht er sich ein in eine Reihe von Politikern, die lieber am Bestehenden festhalten, als dem Kommenden mit Mut zu begegnen. Wer so spricht, stellt nicht nur die Klimaziele infrage – er stellt das Prinzip politischer Verantwortung infrage.

2050 ist kein Ziel. Es ist eine Flucht nach hinten. Und sie führt direkt in die Sackgasse.

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