Letzte Bastion – Wie Deutschlands Gerichte zum Feindbild werden

VonRainer Hofmann

Juni 3, 2025

Es sind nicht mehr nur die politischen Ränder, von denen die Sprache der Verachtung kommt. Wenn Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) am Tag nach einem höchstrichterlich bestätigten Verfassungsgrundsatz erklärt, seine Linie nicht ändern zu wollen, ist das kein Ausrutscher – es ist Programmatik. Am 2. Juni 2025 urteilte die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin in den Verfahren VG 6 L 191/25 u.a., dass die Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutsch-polnischen Grenze ohne vorheriges Asylverfahren rechtswidrig ist. Drei somalische Schutzsuchende waren am 9. Mai 2025 in Frankfurt (Oder) trotz geäußerten Asylgesuchs von der Bundespolizei gestoppt und noch am selben Tag zurück nach Polen gebracht worden – ohne Anhörung, ohne rechtliches Gehör, ohne Dublin-Verfahren. Das Gericht stellte klar: Dieses Vorgehen verstößt gegen deutsches und europäisches Recht. Die Beschlüsse sind unanfechtbar.

Und doch erklärte Dobrindt noch am selben Abend, man halte „an der bestehenden Praxis fest“, das Urteil betreffe „nur einen Einzelfall“. Dabei war es alles andere als das: Es war eine Verteidigung des Rechtsstaats gegen eine politische Praxis, die sich der Eindeutigkeit verweigert. Was früher als neutrale Instanz galt, wird nun zum Störfaktor erklärt. Richter, Verwaltungsgerichte, Verfassungsorgane – sie stehen im Verdacht, die „Durchsetzungskraft des Staates“ zu untergraben, wenn sie gegen Abschiebungen urteilen. Die Parallelen zur US-amerikanischen Entwicklung unter Donald Trump sind frappierend – nur dass die CDU/CSU im Jahr 2025 dabei ist, Trumps Lektionen in deutsches Verwaltungssprech zu übersetzen. Denn das Klima hat sich gedreht. Laut aktueller Umfrage liegt die Union bei 26,5 %, weiter zwei Punkte vor der AfD. Gemeinsam dominieren sie rechnerisch die Debatte – nicht nur zahlenmäßig, sondern auch rhetorisch. Was in den USA längst politische Realität ist – ein systematischer Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte, flankiert durch Medienkampagnen und Mobilisierung gegen „linksgerichtete Richter“ – beginnt auch hier, Form anzunehmen. Wenn Dobrindt von einem „Asylmissbrauch unter dem Schutz der Justiz“ spricht, markiert er den Richter nicht mehr als Teil des staatlichen Systems, sondern als dessen Saboteur. Ein gefährliches Spiel mit der Trennung der Gewalten.

Währenddessen stagniert die SPD auf 16 %, die Grünen verharren bei 10,5 %. Die politische Linke ist zersplittert – 10,5 % für Die Linke, 4 % für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Und die FDP? Ebenfalls bei 4 % – in der Bedeutungslosigkeit der liberalen Entkernung. Die politische Landschaft ist von einer tektonischen Verschiebung gezeichnet, in der rechtspopulistische und konservative Narrative über Migrationspolitik, Ordnung und nationale Stärke dominieren. Doch es geht nicht nur um Zahlen. Es geht um das Menschenbild. Um die Idee, ob Gerichte dem Menschen dienen – oder dem Staat. Ob Grundrechte Individualrechte bleiben dürfen – oder zur Disposition politischer Opportunität gestellt werden. In Berlin urteilen Verwaltungsrichter – wie jene der 6. Kammer – nicht mit Pathos, sondern mit Gesetzestreue. Sie prüfen Einzelfälle, gewichten Schutzinteressen, achten auf Anhörungen und auf die Unversehrtheit des Rechts. Was nach rechtsstaatlichem Normalvollzug klingt, wird von Teilen der Union inzwischen als „Sabotage“ geframet – als wäre Justiz ein Hindernis statt eine Garantie.

Die AfD bedient diese Linie schon lange. Doch dass nun auch die Union nachzieht – mit Formulierungen, die dem US-Diskurs unter Trump erschreckend ähneln – ist ein Warnsignal. Wer die Gerichte zur „letzten Bastion“ erklärt, sagt damit auch: Wir stehen kurz vor der Belagerung. Und diese Rhetorik hat Konsequenzen – für Migranten, für Richter, für eine Gesellschaft, die sich langsam an autoritäre Töne gewöhnt.

Deutschland muss sich fragen: Ist das noch ein Wettbewerb um Mehrheiten – oder schon ein Kampf um die Fundamente?

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Reiner
Reiner
1 Monat zuvor

Eine unweigerliche Entwicklungsnotwendigkeit, wenn man den Personalbestand der handelnden Personen analysiert. Es war nichts anderes zu erwarten. Erinnert sich noch jemand an irgendwelche „Brandmauern“ oder ähnliches – alles Blendwerk! Dammbrüche sind die neue Politik!

Katharina Hofmann
Admin
1 Monat zuvor
Reply to  Reiner

…wird leider weniger und weniger

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