Es beginnt wie ein Déjà-vu aus jenen Zeiten, in denen Gewaltenteilung noch ein Begriff war, der etwas bedeutete: J.D. Vance, Vizepräsident der Vereinigten Staaten, gibt in einem Interview mit der New York Times dem obersten Richter des Landes, John Roberts, öffentlich Nachhilfe. Die Justiz, so Vance, müsse sich endlich fügen – dem Willen des Volkes, dem Präsidenten, der „Autorität“. Die Gerichte, insbesondere die unteren Instanzen, seien außer Kontrolle. Sie würden, so wörtlich, „versuchen, den Willen des amerikanischen Volkes zu stürzen“.
Was wie die Einleitung eines dystopischen Romans klingt, ist Teil der politischen Realität der Vereinigten Staaten im Mai 2025. Vance, Jurist mit Abschluss in Yale, ehemaliger Bestsellerautor, Ideologe mit messianischem Sendungsbewusstsein, vertritt eine Vorstellung von Demokratie, in der Richter sich unterordnen – und nicht mehr urteilen. Das Ziel: die Entmachtung der dritten Gewalt. Die Methode: moralische Erpressung im Namen des Volkes.
„Sie können kein Land haben, in dem das amerikanische Volk immer wieder eine konsequente Einwanderungspolitik wählt – und die Gerichte ihm verbieten, sie zu bekommen“, sagte Vance.„Das ist genau das, was gerade passiert.“
Doch was gerade passiert, ist etwas anderes. Es sind die Gerichte, die das fragile Gleichgewicht einer verfassungsmäßigen Ordnung aufrechterhalten – gegen eine Regierung, die ohne Rücksicht auf Grundrechte handelt, gegen Präsident Trump, der Gesetze als Empfehlungen und Menschenrechte als Hürde begreift.
Vance nennt es Demokratie. In Wahrheit ist es das Gegenteil.
In seinen Aussagen liegt kein Missverständnis, sondern Kalkül. Als Stephen Miller, der einstige Architekt der Massenabschiebungen, behauptete, „illegale“ Migranten hätten kein Anrecht auf ein faires Verfahren, widersprach Vance immerhin – um im selben Atemzug zu erklären, dass es nicht Aufgabe der Gerichte sei, das Handeln des Präsidenten zu kontrollieren. Dasselbe sagte er bereits 2021: Trump solle die gesamte Verwaltung austauschen, Richter ignorieren und im Zweifel handeln wie Andrew Jackson – der einst sagte: „Der Oberste Richter hat gesprochen. Jetzt soll er seine Entscheidung auch durchsetzen.“
Damals war das eine radikale Fantasie. Heute ist es Regierungslinie. Beispiele für diese Missachtung der Justiz gibt es viele. Das jüngste: ein Abschiebeflug nach Südsudan, bei dem Migranten weniger als 24 Stunden vorher informiert wurden – ohne Kontakt zu Anwälten, ohne rechtliches Gehör. Ein Richter nannte es eine „Verhöhnung rechtsstaatlicher Prinzipien“. Der Supreme Court stoppte die Maßnahme – mit der deutlichen Feststellung, dass auch Menschen unter dem Alien Enemies Act Anspruch auf gerichtliche Überprüfung hätten.
Doch die Regierung hatte es bereits versucht: in geheimer Anordnung, ohne Mitteilung, ohne Möglichkeit zur Verteidigung.
Ein anderer Fall: Kilmar Armando Abrego Garcia, ein junger Salvadorianer, der – obwohl kein Verbrechen begangen – nach El Salvador deportiert und dort inhaftiert wurde. Gegen ein richterliches Verbot. Bis heute sitzt er in einem Gefängnis in Ilopango, obwohl der Oberste Gerichtshof seine Rückführung angeordnet hat. Trump, Vance, Bukele? Ignorieren das. Vance sagte lakonisch: „Der Präsident von El Salvador will ihn nicht zurückschicken. Was sollen wir machen?“
Die Antwort wäre einfach: Recht befolgen.
Auch Rümeysa Öztürk, eine türkische Studentin an der Tufts University, wurde zum Opfer. Nach einem regierungskritischen Meinungsbeitrag in der Hochschulzeitung wurde ihr Visum in aller Stille annulliert, sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von sechs maskierten Agenten verhaftet, nach Vermont, dann Louisiana gebracht – ohne Anklage, ohne Kontakt zur Außenwelt. Erst nach sechs Wochen griff ein Berufungsgericht ein.
Das sind keine Einzelfälle. Das ist System. Es ist die stille Entkernung rechtsstaatlicher Prinzipien durch eine Administration, die sich nicht dem Gesetz unterwirft, sondern es neu definiert. Doch das amerikanische Volk, auf das sich Vance so gern beruft? Es scheint ihm nicht zu folgen. Eine CNN-Umfrage zeigt: Über die Hälfte der Befragten fordert die Rückkehr von Kilmar Abrego Garcia. Eine Washington Post/ABC/Ipsos-Umfrage: 67 Prozent der US-Bürger meinen, Bundesrichter sollten weiterhin die Macht haben, Trump-Dekrete auszusetzen. Und: 65 Prozent sagen, die Trump-Regierung versuche bewusst, Gerichtsbeschlüsse zu umgehen.
Es ist eine bemerkenswerte Zahl – und ein stiller Beweis dafür, dass der Rechtsstaat, selbst wenn er geschwächt wird, noch lebt. Denn die Mehrheit der Menschen spürt, was auf dem Spiel steht. In diesem Machtkampf zwischen Exekutive und Justiz ist Vance nicht einfach nur ein radikaler Ideologe. Er ist die intellektuelle Fassade eines autoritären Projekts. Er spricht im Duktus des Gelehrten – und verfolgt doch das Ziel des Demagogen: eine Demokratie, in der Gerichte nicht mehr urteilen, sondern exekutieren. Ein Land, in dem Recht kein Schutz mehr ist, sondern ein Werkzeug der Macht.
Er sagt, es gehe um den „Willen des Volkes“. Was er meint, ist der Wille des Präsidenten. Was er ignoriert, ist das Gesetz.
Und was bleibt, ist ein Land, das sich entscheiden muss – zwischen Macht und Maß, zwischen Demokratie und Diktat.
Vielleicht, so könnte man sagen, ist J.D. Vance nicht das Ende. Sondern nur ein sehr gefährlicher Übergang. Doch wer einmal die Justiz zum Feind erklärt, hat die Republik bereits verraten.