Es beginnt mit einer Ironie, wie sie nur in den Tiefen der Machtpolitik gedeiht: Ein Präsident, der behauptet, Amerika habe sich unter seiner Führung vom Chaos erholt, regiert doch, als sei das Land im permanenten Notstand. Donald Trump hat in seiner zweiten Amtszeit nicht einfach die Werkzeuge der Exekutive geschärft – er hat sie umgeschmiedet. In einen Vorschlaghammer. Und damit trifft er nicht nur seine Gegner – sondern auch die Verfassung. Man nennt es inzwischen das „911-Präsidentschaftsmodell“: eine Herrschaft im Ausnahmezustand, ein Regieren auf Grundlage von Notfallgesetzen, die eigentlich für Krieg, Terror und nationale Katastrophen gedacht waren – nicht für politische Ungeduld. In den sechs Monaten seiner zweiten Amtszeit hat Trump bereits 30 von 150 präsidialen Erlassen auf der Basis von Notstandsbefugnissen erlassen – ein Wert, der alle seine Vorgänger übertrifft. George W. Bush – der Präsident des 11. Septembers – rief in seiner ersten Amtszeit nur 14 Mal auf solche Gesetze zurück. Trump hat diesen Stil zur Methode gemacht.
Was früher eine seltene, wohlbegründete Ausnahme war, ist bei Trump Alltag. Notstand ist kein Zustand mehr – sondern ein Regierungsstil. Er begründet Strafzölle mit angeblichen Wirtschaftsnotlagen, versetzt Truppen an die Grenze mit Verweis auf eine „Invasionslage“, hebt Umweltauflagen mit Berufung auf „Gefahr im Verzug“ auf. Die Verfassung? Laut Trump nicht blockiert – sondern umgangen. „Wenn der Kongress nicht handelt, muss ich es tun“, ist der Kernsatz seiner zweiten Präsidentschaft. Und die Mittel dazu liefert ihm ein Gesetz von 1977: Der „International Emergency Economic Powers Act“ (IEEPA) – einst geschaffen, um präsidiale Vollmachten einzuhegen, wird heute zu einem Freibrief.
Dabei war das Gesetz nur für „ungewöhnliche und außergewöhnliche Bedrohungen aus dem Ausland“ gedacht. Doch Trumps Regierung hat es bereits 21 Mal bemüht, um Zölle zu verhängen, Handelsabkommen auszuhebeln oder Investitionen zu blockieren. Auch das Alien Enemies Act aus dem 18. Jahrhundert – ein Instrument, das in seiner Geschichte vor allem durch Willkür glänzte – wird nun wieder angewandt, um venezolanische Migranten ohne Verfahren zu deportieren. Die Begründung: angebliche Verbindungen zur Gang Tren de Aragua – ein Vorwurf, den die US-Geheimdienste selbst nicht bestätigen.
Trump ist nicht der erste Präsident, der Notstandsgesetze nutzt. Franklin D. Roosevelt internierte im Zweiten Weltkrieg japanischstämmige Amerikaner. George W. Bush ließ ohne richterliche Anordnung Telefone abhören. Barack Obama erklärte Gesundheitskrisen zum nationalen Notfall. Und Joe Biden versuchte, mit einem Gesetz aus der 9/11-Ära Studentenschulden zu erlassen – bis das Oberste Gericht ihn stoppte. Doch Trump treibt es weiter. Systematischer. Selbstbewusster. Gefährlicher. Er nutzt die Lücken, wo der Kongress schweigt. Und wenn der Kongress redet, interessiert es ihn nicht. Als dieser 2019 versuchte, Trumps Notstandserklärung zur Finanzierung der Grenzmauer zu kippen, ignorierte er den Beschluss – mit einem Veto. Damals war das eine Grenzüberschreitung. Heute ist es Routine.
„Er nutzt Notstandsbefugnisse nicht zur schnellen Reaktion auf unvorhersehbare Herausforderungen“, sagt John Yoo, ehemals Justizbeamter unter George W. Bush. „Er nutzt sie, um in politische Lücken zu springen, weil der Kongress sich nicht einigt.“ Und weiter: „Trump hat dieses Prinzip einfach auf die nächste Stufe gehoben.“ Doch nicht alle stehen daneben. JD Vance, Vizepräsident unter Trump, verteidigt die Strategie offen: „Wir sind im Notstand – das sehen nur nicht alle.“ Wenn ausländische Regierungen, so Vance, Amerika mit dem Entzug lebenswichtiger Lieferketten drohen – etwa bei Pharmawirkstoffen – sei das per Definition eine nationale Notlage. „Es geht hier nicht um Plastikspielzeug. Es geht um Überleben.“
Der Kongress? Lahmgelegt. Versuche, die Notstandsbefugnisse gesetzlich zu begrenzen, sind mehrfach gescheitert. 2023 wollten Demokraten und moderate Republikaner ein Gesetz durchbringen, das jede Notstandserklärung nach 30 Tagen automatisch auslaufen lässt, sofern der Kongress sie nicht aktiv verlängert. Es scheiterte – kläglich. Seit Trumps Rückkehr ist nicht einmal ein neuer Anlauf unternommen worden. Heute muss der Kongress aktiv abstimmen, um eine Notlage zu beenden. Was nie geschieht – aus Angst, aus Opportunismus oder aus Kalkül.
Elizabeth Goitein vom Brennan Center for Justice nennt das den „stillen Verfassungsbruch“. Jahrzehntelang, sagt sie, sei das Instrument der Notstandsgesetzgebung kaum missbraucht worden. Doch jetzt sei alles anders. Die Verlockung sei zu groß – und die Konsequenzen zu weit entfernt. Die Frage ist nicht mehr, ob Trump seine Befugnisse überdehnt. Sondern ob das System ihn überhaupt noch bremsen kann. Die Gewaltenteilung hat einen Gegner gefunden, der sie zu überlisten weiß – mit Gesetzen, die eigentlich dazu gedacht waren, ihr zu helfen. Aus Notstand wird Normalität. Aus Krise wird Kalkül. Und aus einem Präsidenten wird ein Machtzentrum, das keiner mehr kontrolliert.
Es ist nicht mehr 9/11. Aber Amerika hat einen Präsidenten, der so tut, als sei es jeden Tag.