Rund um den Tempel von Debod standen an diesem Wochenende Tausende Menschen Schulter an Schulter. Familien, ältere Paare, Studenten, Berufstätige, Veteranen der Demokratie – ein Querschnitt des Landes, der die Geduld verloren hat. Sie riefen „Wir wollen Demokratie, nicht die Mafia“ und forderten Pedro Sánchez auf, das Amt niederzulegen. Die Ermittlungen gegen den früheren Minister José Luis Ábalos, der wegen des mutmaßlichen Maskenbetrugs inzwischen in Untersuchungshaft sitzt, haben eine Wunde aufgerissen, die nicht mehr zu kaschieren ist. Die Demonstranten halten dem Regierungschef vor, sein Kabinett habe das Land in ein System aus Gefälligkeiten, Schweigen und geschlossenen Türen geführt.

Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort, doch die Lage blieb alles andere als ruhig. Auf vielen Bildern ist zu sehen, wie Beamte Demonstranten zurückdrängen, Schläge verteilen, Menschen zu Boden gehen. Es waren keine chaotischen Randalierer, sondern wütende Bürger, die sich nicht länger mit Erklärungen abspeisen lassen wollen. Die Aussagen der Protestierenden ähnelten sich: Man fühle sich verraten und belogen, während die Regierung so tue, als sei der Skandal nur ein Ausrutscher. Doch Ábalos ist kein kleines Licht – er war Minister, später Fraktionsmanager, ein Mann im Zentrum der Macht. Dass ausgerechnet er nun im Gefängnis sitzt, zeigt, wie tief die Risse im Regierungsgefüge geworden sind.
Der Vorsitzende der Partido Popular, Alberto Núñez Feijóo, trat vor die Menge und bezeichnete Sánchez’ Regierungsstil als „politische, wirtschaftliche, institutionelle, soziale und moralische Korruption“. Das Publikum reagierte sofort, als hätte jemand eine lang aufgestaute Wahrheit ausgesprochen. Der Skandal um die Maskendeals während der Pandemie wird mittlerweile nicht mehr als Einzelfall gesehen, sondern als ein System, das sich über Jahre verfestigt hat. Und obwohl die PSOE-Führung Ábalos aus der Partei warf, blieb er im Parlament – ein Schritt, der den Zorn vieler Demonstranten zusätzlich befeuerte.
Madrid wirkte an diesem Tag wie eine Stadt, die sich neu sortiert. Menschen standen auf Mauern, hielten Plakate in die Luft, umringten Journalisten diskutierten laut und ohne Scheu. Das Vertrauen in die Regierung scheint für viele gebrochen. Ob diese Proteste die politische Landschaft Spaniens verändern werden, kann niemand sagen. Aber eines ist klar: Ein großer Teil des Landes hat genug. Auch die aktuellen Proteste speisen sich aus dieser alten Wunde. Für viele Spanier ist die Amnestie, die Sánchez 2023 den katalanischen Separatisten zusagte, nie wirklich verarbeitet worden – sie gilt bis heute als Symbol für einen politischen Deal, der zu weit ging. Die damals versprochenen Autonomie-Zusagen und die Art, wie Sánchez seine Regierung rettete, sitzen tief und tauchen in den aktuellen Demonstrationen immer wieder als Mit-Auslöser auf. Selbst Menschen, die weder konservativ noch separatistisch sind, empfinden diese Entscheidungen bis heute als Bruch des Gleichgewichts im Staat – und sehen in den jetzigen Protesten eine Gelegenheit, genau diesen Unmut erneut öffentlich zu machen.
Am Ende zeigt sich, dass die Proteste nicht aus dem Nichts entstanden sind. Sie speisen sich aus Monaten wachsender Unzufriedenheit, aus einem Klima politischer Erschöpfung, aus der Ablehnung der Amnestie und dem Misstrauen gegenüber den Deals, die Sánchez zum Machterhalt schloss. Doch der Moment, der alles bündelte und auf die Straße trug, war die Verhaftung von José Luis Ábalos. Für viele Spanier war sie kein isolierter Skandal, sondern der sichtbare Beweis eines Systems, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dass ausgerechnet ein langjähriger Vertrauter des Regierungschefs in Handschellen abgeführt wurde, gab der Kritik eine Wucht, die auch Teile der Mitte, der Linken und der Unabhängigen erfasste. Ábalos war der Funke – entzündet in einem Land, das längst eine politische Dürre erlebt.
Gleichzeitig betonen viele der Demonstrierenden, dass sie gegen Entscheidungen von Sánchez protestieren – nicht dafür, die Regierung an Vox und PP zu übergeben. Doch genau diese Sorge schwingt überall mit. Die Aussicht, dass die politische Erschöpfung am Ende ausgerechnet den Kräften nutzt, die die Demokratie am heftigsten polarisieren, beschäftigt viele weit über Parteigrenzen hinaus. Vox und PP liegen in mehreren Umfragen vorn, und die Möglichkeit einer gemeinsamen Regierung ist realer denn je. Für breite Teile der Bevölkerung wäre ein solches Bündnis ein Rückschritt, der Bürgerrechte, Gleichstellung, Migration und die europäische Rolle Spaniens hart treffen würde. In Gesprächen auf den Straßen Madrids ist diese Angst greifbar: selbst Menschen, die Sánchez seit Monaten kritisieren, sagen offen, dass sie keine Rückkehr eines Blocks wollen, der die Katalonien-Krise verschärfte, Sozialprogramme kürzte und das Rechtssystem für politische Zwecke einsetzte.
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