Es gibt Verbrechen, die so gezielt ausgeführt werden, dass man irgendwann aufhören muss, von Einzelfällen zu sprechen. Die Entführung ukrainischer Kinder gehört dazu. Sie ist systematisch, geplant und über Jahre hinweg aufgebaut. 19.546 Kinder gelten als entführt, über eine Million leben unter russischer Kontrolle, ohne irgendeinen legalen Weg zurück. 2.245 werden vermisst, fast 700 wurden getötet, mehr als 2.000 verletzt. Und nur 1.850 konnten bisher heimgeholt werden – jedes einzelne nach Monaten voller Diplomatie, verdeckter Wege und internationaler Hilfe.
Maksym Maksymov von Bring Kids Back UA beschreibt das Ziel ohne Umwege: „Identitätsauslöschung soll eine zukünftige Bevölkerung in den besetzten Gebieten schaffen, die politisch auf Russland ausgerichtet ist und keine Verbindung mehr zur Ukraine hat.“ Genau das bildet den Rahmen dieses Systems. Kinder werden aus Familien gerissen, in 57 russische Regionen verteilt, in über 210 Einrichtungen untergebracht – Heime, Lager, Zentren für Umerziehung. Manche landen in Sibirien, andere im Fernen Osten, auf den Kurilen, in Regionen wie Mari El. Manche sogar 9.000 Kilometer entfernt in Nordkorea. Bei einer Sondersitzung der UN und in Anhörungen in Kanada und den USA wurde ausgesprochen, was längst offensichtlich ist: Russland begeht massenhafte Verschleppung, Zwangsadoption, Umerziehung und Militarisierung ukrainischer Kinder. All das fällt nach internationalem Recht unter die Definition von Genozid. Die Reaktion war ungewöhnlich deutlich: 92 Staaten verlangen die sofortige und bedingungslose Rückgabe aller ukrainischen Kinder. Doch Russland und elf weitere Länder stimmten dagegen.

Eine der bedrückendsten Aussagen kam von der Menschenrechtsanwältin Kateryna Rashevska. Sie zeigte das Foto eines zwölfjährigen Jungen und eines sechzehnjährigen Mädchens aus den besetzten Gebieten. Beide wurden nach Nordkorea gebracht, weit entfernt von jeder Möglichkeit der Rückkehr. Später erhielten sie Einberufungsbescheide für die russische Armee. Rashevska formulierte es so: „Das Ziel ist, dass Ukrainer auf Ukrainer schießen.“ Härter lässt sich die Absicht dieses Systems kaum benennen.
Noch deutlicher wird das Ausmaß durch die Arbeit des Yale Humanitarian Research Lab. Sein Leiter, Nathaniel Raymond, schilderte, wie die Ermittlungen starteten: russische Lokalbeamte posteten Selfies mit ukrainischen Kindern – inklusive Standortdaten. Diese Sorglosigkeit machte sichtbar, was Russland verbergen wollte. Die Ermittler kartierten ein Netzwerk von über 210 Einrichtungen, das sich von der Schwarzmeerküste bis in Regionen erstreckt, die näher an Japan und Alaska liegen als an Kyjiw. Nach ihren Daten befanden sich Anfang 2023 mindestens 6.000 ukrainische Kinder in solchen Lagern. Ihre interne Schätzung liegt jedoch bei etwa 35.000 – fast doppelt so hoch wie die Zahl, die offiziell genannt wird.

Raymonds Team dokumentierte vier große Gruppen betroffener Kinder: solche in russischen „Erziehungslagern“, Kinder, deren Eltern durch russische Angriffe getötet wurden, Minderjährige, die während der Filtration von ihren Familien getrennt wurden, und Kinder aus ukrainischen Heimen, die später auf russischen Adoptionsseiten auftauchten. Besonders erschütternd war eine Entdeckung, die durch ein Detail auffiel: eine bestimmte Tapetenfarbe, die in einem russischen „Waisenhaus“ auftauchte und zuvor in einem ukrainischen Heim gefilmt wurde, das während der Besatzung geleert worden war. Die Botschaft war eindeutig: Die Kinder wurden nicht versteckt – nur ihre Herkunft.
Und dann kam eine Nachricht, die zeigt, wie fragil solche Ermittlungen sind. Raymond erklärte, dass die Finanzierung seines Projekts gekürzt wurde. „Wir haben noch vier bis sechs Wochen“, sagte er. Wenn dieser Zeitraum verstreicht, droht ein Dunkel, in dem viele Spuren unauffindbar werden.
Gleichzeitig gibt es kleine Zeichen der Hoffnung. Sieben Kinder wurden in dieser Woche nach Hause gebracht. Unter ihnen die neunjährige Inna. Mit sechs Jahren schwer verletzt, nach Russland verschleppt, in einem Heim bei Moskau zur Adoption vorbereitet, ohne dass ihre Verwandten wussten, ob sie noch lebt. Jetzt ist sie wieder bei ihrer Familie. Doch ihre Rückkehr ist eine Ausnahme – und ein Hinweis darauf, wie groß die Lücke zwischen 1.850 geretteten und zehntausenden verschleppten Kindern ist. Melania Trump hatte mit der Rückführung dieser sieben Kinder nichts zu tun.
Ihre Darstellung war politisch motiviert und geschmacklos.

In den USA fand ein weiterer Moment statt, der die Schwere der Lage verdeutlichte. Der republikanische Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael McCaul, schilderte Ausschnitte aus dem Film „Children in the Fire“: Kinder, die mit Elektroschocks gefoltert wurden, unter den Fingernägeln, im Intimbereich. „Ich kann mir als Vater nicht vorstellen, dass meinen Kindern so etwas passiert“, sagte er. Es war kein politischer Satz, sondern ein menschlicher. Die Welt reagiert, aber zu spät und zu langsam. 92 Staaten haben sich positioniert. Andere schweigen. Und Russland führt sein System fort, weil es weiß, was auf dem Spiel steht. Ein Volk kann nur überleben, wenn seine Kinder zu ihm gehören. Wer sie entführt, will mehr als Territorium. Er will Zukunft.

Die Fotos zeigen zwei ukrainische Jungen, die auf russischen Adoptionsportalen unter anonymisierten Profilseiten („anketa“) angeboten wurden – als wären sie reguläre Waisen. Tatsächlich handelt es sich bei vielen dieser Kinder um Minderjährige, die während der Besatzung aus der Ukraine verschleppt wurden und anschließend durch russische Behörden systematisch in das eigene Adoptionssystem überführt wurden.
Solche Anzeigenlisten gehören zu den wichtigsten Beweisen dafür, dass Russland entführte ukrainische Kinder als „adoptionsbereit“ ausgibt, sie umbenennt, ihre Identität verändert und sie anschließend in russische Familien vermittelt.
Deshalb ist dieser Angriff so gefährlich. Und deshalb muss er benannt werden: Es ist ein Versuch, eine Generation zu zerstören. Was Russland betreibt, ist Identitätsraub im großen Stil. Ein Angriff auf Sprache, Kultur, Familie und Herkunft. Ein Verbrechen, das die Welt nicht ignorieren darf. Die Ukraine kämpft nicht nur an Frontlinien. Sie kämpft dafür, dass jedes dieser Kinder zurückkehrt. Dass ihre Namen, ihre Sprache, ihre Erinnerungen nicht ausgelöscht werden. Dass sie nicht in Uniformen gesteckt werden, die sie zwingen, gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. Und dass ihr Leben nicht zu einem Instrument der Gewalt gemacht wird.
Jedes Kind, das nach Hause kommt, ist ein Sieg. Jedes Kind, das noch fehlt, ist ein Auftrag. Es darf keinen Zweifel geben: Alle müssen zurück.
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Wieso lehnen soviele Länder die Rückführung entführter Kinder ab? Ich verstehe sowas einfach nicht.