Die Erde von Izium hat lange geschwiegen, doch ihr Schweigen war nie leer. In den Wäldern, die einst nur nach Harz rochen, lagen Jahre lang 449 Menschen, verscharrt ohne Namen, ohne Abschied, ohne die kleinste Spur von Würde. Jetzt, mehr als drei Jahre nach der Befreiung, wurde die letzte Exhumierung abgeschlossen. Jede geöffnete Grube stand für ein Leben, das ausgelöscht wurde, für eine Familie, die keinen Halt mehr fand, für eine Stadt, die lernen musste, dass Grausamkeit keinen Zufall kennt.

Unter den Toten befanden sich 23 ukrainische Soldaten. Der Rest waren Zivilisten, darunter fünf Kinder. Menschen mit gewöhnlichen Tagen, mit kleinen Routinen, mit Nachbarn, die sich an ihre Stimmen erinnern. Viele von ihnen trugen Spuren von Folter, gebrochene Knochen, gefesselte Hände, Verletzungen, die kein Krieg rechtfertigen kann. All das wurde nicht in der Hitze eines Gefechts verübt, sondern im Schatten einer Besatzung, die sich anmaßte, über Leben und Tod zu entscheiden.
Wer die Bilder aus Bucha, Irpin, Mariupol oder Oleniwka je gesehen hat, weiß, dass Izium kein Ausreißer ist. Nichts daran ist ein Unfall, kein „einzelner Trupp“, keine Laune eines enthemmten Kommandeurs. Die Muster wiederholen sich, weil sie gewollt sind. Weil systematische Gewalt zu jener Methode wurde, die Russland in den besetzten Gebieten hinterlässt wie eine Signatur, die unauslöschlich bleibt. Alles, was man in diesen Orten fand, findet man auch in Izium: gefolterte Männer, erschossene Frauen, Kinder, deren Zukunft in einem Wald endete, den sie nie betreten wollten. Jetzt, da die Namen der 449 gefunden wurden, verliert sich niemand mehr im Dunkel. Die Angehörigen wissen endlich, wohin sie gehen können, wenn sie sprechen wollen, wenn sie schweigen müssen, wenn ein Grab der einzige Ort ist, der nicht lügt. Doch mit jedem identifizierten Körper wächst auch das, was nicht überdeckt werden kann: die Erkenntnis, dass dieses Verbrechen größer ist als ein Schlachtfeld und tiefer reicht als jede politische Erklärung.

Es ist ein Angriff auf ein Volk. Ein Versuch, eine Stadt, eine Region, ein Land zu brechen, indem man die Menschen ausradiert, die es tragen. Die Ukraine hat dafür ein Wort, und es ist das einzig richtige: Völkermord. Izium belegt es mit jeder Schaufel Erde, die gehoben wurde, mit jedem Gebet, das geflüstert wird, und mit jeder Geschichte, die weitergegeben wird, damit niemand je behaupten kann, er habe davon nichts gewusst.

Die Toten sind nun gezählt. Doch was hier sichtbar wurde, zählt weit darüber hinaus.
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