Europa und die Ukraine machen in diesen Tagen deutlich, wie wenig Vertrauen sie in Putins angebliche Gesprächsbereitschaft haben. Fünf Stunden saß er im Kreml mit Steve Witkoff und Jared Kushner, doch am Ende blieb alles so leer wie vorher. Während Trump erklärt, seine Emissäre seien „sehr sicher“, Putin wolle einen Deal, sehen die europäischen Regierungen nur eines: neue Angriffe, neue Drohungen, neue Versuche, Zeit zu schinden. Die britische Außenministerin forderte ihn auf, „das Schauspiel und das Blutvergießen zu beenden“, der ukrainische Außenminister warnte ihn, „nicht länger die Zeit der Welt zu verschwenden“. Diese Sätze zeigen die Belastung eines Kontinents, der seit fast vier Jahren versucht, eine Invasion abzuwehren, die auf Expansion statt auf Frieden baut.

Putin behauptet derweil, es seien die Europäer, die den Frieden sabotieren. Gleichzeitig verkündet er, Russland sei „bereit für den Krieg mit Europa“, falls man ihn herausfordere. Seine Armee schickt jede Nacht Drohnen auf ukrainische Städte, und in Boiarka stand heute eine Mutter vor dem Sarg ihres gefallenen Sohnes. Dieser Anblick sagt mehr über die Wirklichkeit des Krieges als jedes Wort, das im Kreml gesprochen wird.
Washington hat unter Trump den Kurs gewechselt. Die USA üben weniger Druck auf Moskau aus und setzen stattdessen auf einen Plan, dessen bekannte Elemente Europa als gefährlich einstuft. Die vorgesehenen Zugeständnisse bedeuten für Kiew nichts anderes als die Aufforderung, Teile seines Landes abzugeben, während Russland Sicherheitsgarantien erhielte. Damit würde der Angreifer belohnt, und genau davor warnen europäische Hauptstädte: Wer einem Kriegstreiber etwas überlässt, lädt ihn ein, sich das Nächste zu holen. Witkoff und Kushner sollen nun den ukrainischen Chefunterhändler treffen, doch die eigentliche Frage bleibt dieselbe: Wer soll sich beugen? Russland oder die Ukraine? Für Kiew ist klar, dass kein Quadratmeter zur Verhandlungsmasse wird. Für Putin ist ebenso klar, dass ohne territoriale Forderungen kein Abschluss möglich ist. Und so bleibt die Blockade bestehen.
In Brüssel war die Geduld endgültig am Ende. Estland erklärte, Putin wolle „offensichtlich keinen Frieden“. Finnland forderte einen sofortigen Waffenstillstand, um überhaupt eine Grundlage für Gespräche zu schaffen. NATO-Generalsekretär Rutte stellte klar, dass die Ukraine während jeder diplomatischen Phase stark bleiben müsse. Deutschland, Kanada, Polen und die Niederlande sagten weitere Waffen zu – nicht als Verkäufe wie in Washington, sondern als direkte Unterstützung.

Norwegen hat seine Unterstützung für die ukrainische Verteidigung deutlich ausgeweitet und kündigt weitere 500 Millionen Dollar für zwei neue PURL-Pakete an, die dringend benötigte Luftabwehrsysteme, Munition und weitere militärische Ausrüstung umfassen. Das Land gehört seit Beginn der Initiative im August zu den treibenden Kräften: Bereits im Sommer stellte Oslo gemeinsam mit Schweden und Dänemark 135 Millionen Dollar bereit, im Oktober folgten weitere 200 Millionen im Rahmen eines nordisch-baltischen Pakets. Nun schließt sich Norwegen mit Deutschland, Polen und den Niederlanden zusammen, um zusätzliche Lieferungen zu finanzieren. Über die PURL-Initiative wurden seit ihrer Gründung rund 75 Prozent aller an die Ukraine gelieferten Patriot-Raketen und etwa 90 Prozent der Raketen anderer Luftabwehrsysteme bereitgestellt. Mit den neuen Paketen erhält Kiew auch 155-Millimeter-Geschosse für den Halt der Front, Munition für HIMARS-Systeme und präzisionsgesteuerte Fliegerbomben für Schläge auf russische Stellungen und Logistik. Außenminister Eide forderte weitere Verbündete auf, sich der Finanzierung anzuschließen, und betonte, Norwegen werde seine umfangreiche Unterstützung auch 2026 fortsetzen.
Gleichzeitig sterben Menschen weiter. Zwei Zivilisten wurden in der Region Dnipropetrowsk durch einen Drohnenangriff getötet, mehrere verletzt. In Russland brannte ein Öllager, nachdem Trümmer einer abgeschossenen Drohne eingeschlagen waren. Die Front verschiebt sich kaum noch, doch die Angriffe reißen nicht ab. Jede Verzögerung, jedes politische Schwanken kann darüber entscheiden, wer im nächsten Winter überlebt.
Und in diesem Moment, in dem Kreml und Weißes Haus über „Frieden“ reden, lohnt ein Blick auf etwas, das unbestechlicher ist als jede Verhandlungsrunde: den Stimmzettel vom 24. August 1991. Damals stand eine Nation vor der Frage, ob sie unabhängig sein wolle. Die Werchowna Rada hatte Monate zuvor die Unabhängigkeit erklärt, gestützt auf das Recht eines Volkes, über sein Schicksal selbst zu bestimmen. Der Text stellte klar, dass das Territorium der Ukraine unteilbar sei. Am Abstimmungstag setzten 92,3 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ihr Kreuz bei „Ja, ich bestätige“.

Wer heute über „territoriale Lösungen“ spricht, sollte diesen Stimmzettel lesen. Er erzählt von einem Land, das seine Unabhängigkeit nicht geliehen, sondern entschieden hat. Ein Sieg Russlands wäre nie nur ein Verlust für die Ukraine, sondern eine Leugnung dieses klaren Willens von 1991. Mehr muss man nicht sagen, um zu verstehen, warum die Ukraine nicht nachgeben kann – und warum jeder Frieden, der sie dazu zwingen soll, keiner wäre.
Stimmzettel für die Abstimmung beim gesamtukrainischen Referendum
Akt der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine Angesichts der tödlichen Gefahr, die über der Ukraine im Zusammenhang mit dem Staatsstreich in der UdSSR am 19. August 1991 hing, unter Berücksichtigung der tausendjährigen Tradition der Staatsbildung in der Ukraine, ausgehend vom Recht auf Selbstbestimmung, das in der Charta der Vereinten Nationen und in anderen völkerrechtlichen Dokumenten verankert ist, unter Berücksichtigung der „Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine“, verkündet die Werchowna Rada der Ukrainischen SSR feierlich: die Unabhängigkeit der Ukraine und die Schaffung eines selbstständigen ukrainischen Staates – der Ukraine.
Das Territorium der Ukraine ist unteilbar und unverletzlich. Ab diesem Zeitpunkt gilt auf dem Territorium der Ukraine ausschließlich die Verfassung und die Gesetze der Ukraine. Dieser Akt tritt mit dem Moment seiner Annahme in Kraft.
Werchowna Rada der Ukraine
24. August 1991„Bestätigen Sie den Akt der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine?“
„Ja, ich bestätige“
„Nein, ich bestätige nicht“Setzen Sie ein Zeichen in das entsprechende Kästchen. Ein Stimmzettel, in dem beide Worte „Ja, ich bestätige“ und „Nein, ich bestätige nicht“ angekreuzt wurden oder in dem kein Wort angekreuzt wurde, gilt als ungültig.
Am 1. Dezember 1991 sagten 92,3% Ukrainerinnen und Ukrainer sagten „Ja“ zur Unabhängigkeit“
Die älteste Erzählung über die Ukraine beginnt nicht mit einem Krieg, sondern mit einem Entschluss. Drei Brüder – Kyji, Schtschek und Choryw – durchstreiften vor vielen Jahrhunderten die Hügel oberhalb des Dnipro. Jeder suchte nach einem Ort, an dem eine Gemeinschaft wachsen konnte, ohne fremde Herrschaft, ohne Zwang, getragen nur vom eigenen Willen. Als sie die Anhöhe erreichten, auf der später Kyjiw stehen sollte, entschieden sie, genau hier ihre Heimat zu bauen. Nicht, weil es leicht war, sondern weil der Ort Schutz, Gemeinschaft und Raum für Selbstbestimmung bot.
Die Legende erzählt, dass sich die Brüder einigten, niemandem außer ihrer eigenen Gemeinschaft verpflichtet zu sein. Wer in diese Stadt kam, sollte nach gemeinsamen Regeln leben, nicht nach den Vorgaben eines fernen Herrschers. In frühen Chroniken heißt es, die Stadt werde nur so lange bestehen, wie ihre Menschen zusammenhalten und sich nicht von außen bestimmen lassen. Dieser Gedanke wurde später zu einem Grundpfeiler des ukrainischen Selbstverständnisses.
In jeder Version der Erzählung bleibt die Botschaft gleich: Die Ukraine war nie das Produkt fremder Entscheidungen. Ihre Wurzeln liegen in einem klaren Ja zur eigenen Freiheit und in der Überzeugung, dass ein Land nur dann Bestand hat, wenn die Menschen, die darin leben, selbst über seine Zukunft bestimmen. Genau deshalb gilt die Legende der drei Brüder bis heute als Ursprung einer Haltung, die kein Imperium auslöschen konnte – weder damals noch heute.
„Und das ist die einzige Wahrheit, über die man sprechen sollte …“
Investigativer Journalismus braucht Mut – und Ihre Unterstützung.
Unterstützen Sie unsere Recherchen gegen Rechtspopulismus, Desinformation sowie Menschen- und Umweltrechtsverletzungen. Jeder Betrag fliesst in unsere tägliche Arbeit – Wir arbeiten ohne Werbung, ohne Abos, ohne Unternehmen, ohne Parteien. Unsere Berichterstattung soll frei zugänglich bleiben. Für jede und jeden.
Unabhängig – Kritisch – Für alle
Danke, dass Sie unsere unabhängige Arbeit möglich machen.
Updates – Kaizen Kurznachrichten
Alle aktuellen ausgesuchten Tagesmeldungen findet ihr in den Kaizen Kurznachrichten.
Zu den Kaizen Kurznachrichten In English
Danke für diesen Artikel und eine sehr klare Sichtweise.