Ein Mädchen, 12 Jahre, eine leere Straßenecke – und ein Staat, der ihr den letzten Elternteil nimmt

VonRainer Hofmann

November 23, 2025

Delila stand vor der Logan Elementary School und suchte wie jeden Tag das Gesicht ihres Vaters. Es war Routine, ein kleines tägliches Ritual zwischen ihnen beiden: Sie kam heraus, er winkte, sie liefen gemeinsam los. Doch an diesem Nachmittag war die Straße voller Eltern, voller Stimmen und Bewegung – und trotzdem fehlte der einzige Mensch, den sie finden wollte. Stattdessen sah sie den Ehemann der Vermieterin und ihren Großvater auf sie zukommen. An ihren Blicken begriff sie, dass etwas Unwiderrufliches geschehen war, noch bevor einer von ihnen sprach. Und dann brach die Wahrheit über sie herein. Ihr Vater, Pablo Blancas-Gomez, war am Morgen in West Ridge festgenommen worden, während er an einem Haus arbeitete. Die Beamten ließen seinen roten Arbeitstruck mitten auf der Straße zurück, Schlüssel steckten im Zündschloss, als wäre ein Leben einfach eingefroren worden. Als man ihr das sagte, wurde sie still – und fing dann an zu weinen. Ein Mädchen, das zuerst die Mutter verloren hat und jetzt den zweiten Elternteil.

Festnahme von Pablo Blancas-Gomez

Pablo war ihr einziger verbleibender Elternteil. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er sie allein großgezogen. Er half morgens beim Rucksack, kochte sein merkwürdiges Lieblingsgericht aus Mayo und Ketchup, fuhr sie in seinem roten Truck herum, spielte abends Pac-Man mit ihr. Er war Vater, Mutter, Freund und Alltag in einem. Und weil er wusste, wie gefährlich sein Leben als undocumented worker war, warnte sie ihn sonst jeden Morgen: „Pass auf ICE auf.“ Nur an diesem Tag sagte sie nichts. Dieser Gedanke frisst sie auf. „Kann ich eine zweite Chance haben?“, sagte sie weinend zu ihrer Halbschwester Kassandra.

Kassandra Ramirez ist 32, arbeitet Vollzeit, trägt ein Leben, das eigentlich schon schwer genug war. Nun musste sie über Nacht für ein trauerndes Kind sorgen: Schule, Essen, Termine, Trost, Papierkram, alles gleichzeitig. Sie sagt: „Das habe ich nicht geplant.“ Doch sie macht es – weil niemand sonst übrig ist.

Delila mit ihrer Schwester Kassandra

Seit der Festnahme sitzt Pablo mehr als 1.500 Meilen entfernt in El Paso in Haft. Beim ersten Telefonat zitterte seine Stimme. Das Gespräch dauerte kaum zwei Minuten. Er sagte „Ich liebe dich“. Sie sagte dasselbe zurück, aber danach legte sich ein Loch über ihr Leben. „Ich weiß, dass mein Vater lebt“, sagte sie zu ihrer Schwester, „aber es fühlt sich an, als wäre er weg.“ Die Anhörung vom 22. November brachte nicht das Ergebnis, auf das Delila und ihre Schwester gehofft hatten; es fehlten Akten, grotesk genug; jetzt liegt alle Hoffnung auf dem Termin am 2. Dezember. In dieser Zwischenzeit erhält die Familie jede Unterstützung, die möglich ist – für Delila, die ihren letzten Elternteil verloren hat, und für Pablo, der seit Wochen fern seiner Heimatstadt festgehalten wird. Wir nutzen diese Tage, um weiter zu recherchieren und jede relevante Information zu sichern. Fest steht: Pablo zahlte verlässlich seine Steuern, lebte unauffällig in der Nachbarschaft und führte seine kleine Reparaturfirma offiziell und ordnungsgemäß. Seine Geschichte ist nicht die eines Menschen, der sich verstecken wollte, sondern die eines Vaters, der versuchte, seinem Kind ein stabiles Leben zu geben.

Sein Fall ist kompliziert. Während die Behörden ihn als „gewalttätigen kriminellen illegalen Ausländer“ darstellen, zeigen die Akten ein anderes Bild: Die Anklagen wegen Sachbeschädigung aus dem Jahr 2019 wurden fallengelassen, der angebliche Schwarzarbeit von 2015 endete mit einem Freispruch. In ihrer Schule erhält Delila Unterstützung und Beratung, doch nichts gleicht den Verlust aus, den sie erlitten hat. Selbst der örtliche Bezirksvorsteher Andre Vasquez war entsetzt, als er am Ort der Razzia den verlassenen roten Arbeitstruck mit steckendem Schlüssel fand – ein stummes Zeichen dafür, wie abrupt ihr Leben aus der Bahn gerissen wurde.

In Chicago organisieren Anwälte inzwischen täglich Notfall-Workshops für kurzfristige Sorgerechtsregelungen. Was früher zwei oder drei Anfragen im Jahr waren, sind heute zwei oder drei Anrufe am Tag. Lehrkräfte berichten von Kindern, die kaum noch schlafen, kaum noch essen, im Unterricht abwesend wirken und mit jeder Sirene zusammenzucken. Manche Familien entscheiden sich für die Selbstabschiebung – aus purer Angst vor einer Festnahme, die ihre Kinder in Heime oder zu Fremden bringen könnte. Und einige Eltern, so berichten Hilfsorganisationen, schicken ihre Kinder sogar in Länder zurück, aus denen sie einst geflohen sind, weil sie eine Trennung fürchten, die sie nicht überleben würden.

Seit Trumps neuer Runde landesweiter Razzien stehen in Chicago täglich Kinder wie Delila alleine da. Lehrer berichten von Schülern, die nicht mehr schlafen, nicht essen, im Unterricht abdriften. Anwälte werden mit Anrufen überflutet, weil Eltern in Panik hastig Notfall-Vollmachten ausfüllen wollen, für den Fall, dass sie nicht mehr nach Hause kommen. Manche Familien entscheiden sich zur Selbstabschiebung, nur um zusammenzubleiben. Andere schicken ihre Kinder in Länder, in denen sie nie gelebt haben. Es ist ein Klima, das Eltern mit Angst füllt und Kinder mit einer Stille zurücklässt, die größer ist als jede Razzia.

Delila klammert sich an ein letztes Video ihres Vaters, aufgenommen wenige Tage vor seiner Festnahme. Sie lacht, wenn sie es sieht. Für einen Moment wird alles leichter, die Welt wieder so, wie sie war, bevor ICE am Morgen in West Ridge anrückte. Doch dann ist das Video vorbei – und die Gegenwart kehrt zurück. Ein Mädchen, das schon die Mutter verloren hat, wartet auf ihren Vater, der vielleicht nie zurückkommt.

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Angela
Angela
7 Stunden zuvor

Ist das traurig. Danke das ihr daran bleibt und helft.

Observer
Observer
7 Stunden zuvor

😢

Helga M.
Helga M.
4 Stunden zuvor

😢👊😡

Lea
Lea
7 Minuten zuvor

Unmenschlich!

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