Es ist eine Szene, die in den Geschichtsbüchern schon lange verzeichnet steht: Sommer 1932, der sogenannte „Preußenschlag“. Unter dem Vorwand, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen, setzte die Reichsregierung die demokratisch gewählte Regierung Preußens ab und übernahm die Kontrolle über deren Polizei. Es war ein Schritt, der den föderalen Charakter der Weimarer Republik erschütterte – und den autoritären Kräften den Weg ebnete, die wenig später alle kommunalen Freiheiten tilgten. Damals wie heute waren es nicht Panzer vor den Rathäusern, sondern juristische Hebel und ein rhetorisch aufgeladener Sicherheitsdiskurs, die den Umbruch einleiteten.

Fast ein Jahrhundert später, in den frühen Stunden eines Freitagmorgens, liegen die Straßen von Washington unter einem ganz ähnlichen Schatten. Auf der U Street drängen sich die Nachtschwärmer, lachen, streiten, warten auf Pizza oder Falafel. Polizeiwagen der Metropolitan Police patrouillieren am Rand der Menschenmengen. Doch die angekündigte „Übernahme“ der Stadt durch Präsident Donald Trump – ein massiver Aufmarsch uniformierter Bundeskräfte – ist in dieser Nacht nicht zu sehen. Noch nicht. Der Präsident hatte am Vorabend verkündet, ab Mitternacht für mindestens sieben Tage die Straßen der Hauptstadt unter direkte Kontrolle zu bringen, „mit Option auf Verlängerung“. In seiner Logik ist dies der Beginn einer Rückeroberung einer „unsicheren, schmutzigen und miserabel verwalteten“ Stadt. In der Realität wirkt es wie der Prolog zu einem Experiment, das an historische Abgründe rührt.


Offiziell beteiligen sich über hundert Bundesbeamte aus Secret Service, FBI und US Marshals Service an dem Einsatz, unterstützt von weiteren Behörden. Das Weiße Haus meldet erste Festnahmen – zwei gestohlene Schusswaffen, mutmaßliches Fentanyl, Marihuana. Pressesprecherin Karoline Leavitt spricht von „dem ersten Schritt, um die Gewaltverbrechen zu stoppen“. Der Auslöser ist ein Angriff auf einen hochrangigen Beamten des „Department of Government Efficiency“ durch Jugendliche bei einem versuchten Carjacking. Zwei 15-Jährige wurden festgenommen, weitere Verdächtige sind flüchtig. Für Trump ist dies der Beweis, dass die Stadt „die Kontrolle verloren“ hat.

Die juristische Dimension ist erheblich. In seinen jetzigen Schritten bewegt sich der Präsident im Rahmen seiner Befugnisse: Er kann Bundesbeamte einsetzen, er kann – wenn er will – die Nationalgarde in Marsch setzen. Doch jede Übernahme der Metropolitan Police oder gar die Aufhebung der Selbstverwaltung („home rule“) erfordert einen Notstand und würde wohl vor Gericht enden. Die radikalste Option, die Aufhebung des Home Rule Act von 1973, bedarf eines Kongressbeschlusses. Dieses Gesetz, von Richard Nixon unterzeichnet, war der späte Sieg der Hauptstadtbewohner über eine Geschichte der Fremdverwaltung: Erstmals durften sie Bürgermeister und Stadtrat selbst wählen. Zuvor war Washington von Bundeskommissaren regiert worden – eine Konstruktion, die den Bürgern politische Mitsprache, aber auch Verantwortung vorenthielt.

Diese Machtlogik ist nicht allein ein amerikanisches Phänomen. Auch in Deutschland gibt es politische Kräfte, die unter dem Deckmantel der Sicherheit eine weitreichende Zentralisierung anstreben. Die AfD hat in strategischen Papieren mehrfach vorgeschlagen, die Entscheidungsrechte von Ländern und Kommunen in Schlüsselbereichen zu beschneiden – etwa in der Asylpolitik, bei polizeilichen Kompetenzen oder in der Medienaufsicht. In ihrer „Migrationswende“-Agenda finden sich Forderungen, Kommunen keine Wahlfreiheit mehr zu lassen, ob sie Geflüchtete aufnehmen, und bundesweite Durchgriffsrechte zu schaffen, die das kommunale Selbstverwaltungsrecht nach Artikel 28 des Grundgesetzes de facto aushebeln würden. Begleitet wird dies von einer „Notstandsrhetorik“, die Migration, Terrorgefahr oder angeblich gescheiterte Integrationspolitik als Rechtfertigung für solche Eingriffe inszeniert. Die Nähe der AfD zu Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ist dabei kein Zufall. Für viele in der Parteiführung gilt er als Beweis, dass sich demokratische Strukturen schrittweise in ein System lenken lassen, das Macht bündelt, Medien kontrolliert und Opposition marginalisiert – und das dennoch den Anschein einer formalen Demokratie wahrt. Orbán verkörpert damit für die AfD eine politische Schablone, die in ihrer Logik ebenso funktioniert wie Trumps Modell in Washington: zentralisieren, sichern, behalten.

Doch nicht nur die radikale Rechte denkt in solchen Bahnen. Auch die CDU/CSU hat in der Vergangenheit immer wieder Konzepte vorgelegt, die auf eine schrittweise Stärkung der Bundeskompetenzen hinauslaufen – besonders in der Sicherheits- und Migrationspolitik. Unter dem Schlagwort „effiziente Gefahrenabwehr“ forderten Unionspolitiker, die Bundespolizei leichter und ohne langwierige Abstimmungen in Länderhoheit einsetzen zu können. In Krisenszenarien – von Terrorlagen über Pandemien bis zu Energieengpässen – wurde laut über dauerhafte Notfallstrukturen nachgedacht, die Kompetenzen beim Bund bündeln. Auch bei der Verteilung von Geflüchteten drängte die Union auf striktere bundesweite Vorgaben, die kommunale Entscheidungsspielräume verringern. Es sind keine offenen „Machtübernahme“-Pläne wie bei Trump, doch das Ergebnis kann in Teilbereichen ähnlich wirken: weniger lokale Autonomie, mehr Steuerung aus der Hauptstadt.

Hinter allen drei Ansätzen – Trumps brachialem Zugriff, der AfD-Agenda und der unionsgeführten Zentralisierungslogik – steht ein gemeinsamer Nenner: das Misstrauen gegenüber der Fähigkeit lokaler oder föderaler Strukturen, komplexe Probleme selbst zu lösen. In den USA wird diese Haltung von erzkonservativen evangelikalen Netzwerken gestützt, allen voran Paula White, Trumps geistlicher Beraterin, die politische Kontrolle als göttlichen Auftrag interpretiert. In Deutschland speist sie sich aus zwei Strömungen – bei der AfD aus einem völkisch-nationalen Homogenitätsgedanken, bei der Union aus einer technokratisch geprägten Vorstellung von „Effizienz“ und „Einheitlichkeit“. In beiden Fällen jedoch gilt: Zentralisierung wird als Lösung verkauft, obwohl sie im Kern Macht verschiebt – und zwar nach oben.

Denn solche Verschiebungen von Macht – ob offen und martialisch wie bei Trump, ideologisch aufgeladen wie bei der AfD oder schleichend-technokratisch wie bei der Union – verlaufen selten mit einem großen Knall. Sie kommen Schritt für Schritt, in der Verpackung vermeintlicher Vernunft und Sicherheit. Genau das macht sie so gefährlich: Der Moment, in dem eine Gesellschaft aufstehen und sich wehren müsste, ist oft schon vorbei, wenn die neuen Strukturen längst etabliert sind und ihre Rückabwicklung nicht nur juristisch, sondern auch politisch ungleich schwerer geworden ist. Die Verantwortung, diesem Prozess entgegenzutreten, liegt nicht allein bei Parlamenten oder Gerichten. Sie liegt auch bei einer wachsamen Öffentlichkeit, die solche Entwicklungen erkennt, benennt und offensiv debattiert. Eine Gesellschaft, die sich nicht einlullen lässt, kann Druck erzeugen – und damit politische Kosten für jene, die Macht zentralisieren wollen. Das erfordert investigative Medien, die unbequeme Fragen stellen; Investigative Journalisten und NGOs, die Fakten sichern; Wissenschaft, die Zusammenhänge klar analysiert; Bürgerinitiativen, die Widerstand organisieren; und Einzelne, die bereit sind, gängige Narrative zu hinterfragen. Wenn Begriffe wie „Sicherheit“ oder „Effizienz“ zum Totschlagargument werden, um Selbstverwaltung, Bürgerrechte oder den föderalen Ausgleich einzuschränken, braucht es Gegenstimmen, die faktenbasiert zeigen, was tatsächlich auf dem Spiel steht.
In Demokratien ist Passivität der größte Verbündete autoritärer Tendenzen. Was heute in Washington D.C. als einseitiger Sicherheitsvorstoß verkauft wird, kann morgen zum Modellfall werden – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. In Deutschland könnten Kommunen und Länder schnell zum Testfeld für ähnliche Eingriffe werden, wenn eine müde oder abgelenkte Öffentlichkeit solchen Vorstößen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die historische Erfahrung – von der Weimarer Republik über das ungarische und türkische Modell bis zu den jüngsten Entwicklungen in Polen – zeigt, dass sich demokratische Rechte umso schwerer zurückholen lassen, je länger eine Gesellschaft ihre schrittweise Aushöhlung hinnimmt. Die Lektion aus der Geschichte ist klar: Wer zu lange schweigt, wacht in einem Staat auf, den er so nie gewollt hat.
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Zentralisierung bedeutet auch, mehr Kontrolle über eine Gesellschaft zu haben. Am Ende gibt es keine Demokratie mehr, die Regierung bestimmt im schlimmsten Fall bis in die Familien.
Mich wundert das überhaupt nicht. Hat Merz doch einen Großvater von dem er sich nie distanziert hat. Auch Aufarbeitung in der Familie fehlt komplett. Also ist Merz, meiner Ansicht nach, immer noch in den alten Denkmustern unterwegs. Das ist und bleibt fatal.
Wenn man Gruppen Macht gibt, nutzen sie sie aus und wollen sie ausweiten.
Das zeigt die Geschichte mehr wie deutlich.
Nur leider lernen wir nicht daraus.
Es wiederholt sich immer wieder.
Darum seid ihr so wichtig.
Endlich Journalisten die alle 3 in ein Boot setzen, wo die auch hingehören. Mir wird langsam Angst und Bange in Deutschland. Sehe ich dann noch die Medien, beruhigt das nicht, weil die kuscheln mit der Politik und auch viele mit der AFD. Schlimm ist das.
Mega Artikel. Danke.