Wie Russlands Technische Kommission Europa ins digitale Abseits drängt

VonRainer Hofmann

Juli 13, 2025

Recherchen zeigen auf: Die Staatliche Technische Kommission der Russischen Föderation – Gosudarstvennaya Tekhnicheskaya Komissiya, kurz GosTekhKomissiya – ist weit mehr als ein Gremium für Gerätezertifikate. Sie ist das unsichtbare Zahnrad in Putins Kriegswirtschaft – und eines der gefährlichsten Machtinstrumente im Schatten staatlicher Bürokratie. Keine Behörde steht so zentral zwischen Technik und Strategie, zwischen Klassifikation und Kriegsmaschinerie. Und keine agiert so unauffällig – und zugleich so folgenreich für Europa. Gegründet 1992, angesiedelt in der Znamenka-Straße 19 in Moskau, entscheidet sie darüber, was in Russland überhaupt als „staatliches Geheimnis“ gilt – und was nicht. Welche Technik importiert werden darf. Welche Software als sicher klassifiziert wird. Welche Komponenten in staatlichen oder militärischen Netzwerken verbaut werden dürfen. Minister, Geheimdienstvizechefs, Strategen – insgesamt 23 Mitglieder, direkt dem russischen Präsidenten unterstellt. Ihre Entscheidungen sind bindend für Behörden, Gerichte und Unternehmen – ein technokratischer Absolutismus. Ein internes Dokument bestätigt die zentrale Rolle dieser Institution. Darin heißt es, die Kommission sei nicht Teil eines Nachrichtendienstes im klassischen Sinne – aber sie verfüge über umfassende Kontrollbefugnisse zum Schutz sensibler Daten, zur Abwehr technischer Infiltration, zur Kontrolle von Kommunikationsnetzen, IT-Infrastruktur und Software. Sie lizenziert Unternehmen, zertifiziert Geräte, schreibt Standards – und entscheidet, welche Technologien zur sogenannten „Gefährdung der Staatssicherheit“ taugen. Ein Begriff, der beliebig dehnbar ist – und genau das ist seine Funktion.

Was wie eine Behörde klingt, entpuppt sich als Nervenzentrum eines Systems, das längst begonnen hat, seine Architektur zu exportieren. Das Dokument nennt ausdrücklich: Belarus, Usbekistan, Kasachstan. Russland strebt mit diesen Staaten eine Harmonisierung der Kontrollgesetze an – auf Grundlage eines autoritären Verständnisses von „Informationssouveränität“. Ziel ist nicht nur der Schutz eigener Daten, sondern die Schaffung eines digitalen Bollwerks gegen jede Form westlicher Einflussnahme. Ein Bollwerk, das aus Protokollen, Signaturen, Softwareverboten und Lizenzpflichten besteht – aber wirkt wie ein geschlossenes System aus Kontrolle, Disziplinierung und militärischer Vorbereitung. Wie konkret diese Macht wirkt, zeigte zuletzt ein scheinbar technischer Streit am russischen Zoll. Es ging um eine Schmiedepresse, hergestellt von der österreichischen Firma GFM, importiert über eine spanische Tarnfirma an die AZK Group in Izhevsk. Die Frage, ob sie als rotierend oder radial einzustufen sei, schien bürokratisch – doch sie entschied darüber, ob die Maschine überhaupt hätte eingeführt werden dürfen. Denn hinter der Zollnummer verbirgt sich die Einstufung: ziviler Gebrauch, Dual Use, sicherheitsrelevant. Und wer trifft diese Einstufung? Die GosTekhKomissiya.

Sie taucht in keiner Rechnung auf, steht auf keinem Lieferschein – und ist doch mit jeder Schraube präsent. Ohne ihre Genehmigung läuft in Russland kein sicherheitsrelevantes System, keine militärische Produktionslinie, kein staatlich kontrollierter Kommunikationskanal. Sie bestimmt, was als „kompromittierbar“ gilt, was unter Verschlusssache fällt, welche Geräte von ausländischen Unternehmen zugelassen oder abgelehnt werden. In ihrem offiziellen Selbstverständnis – so das geleakte Dokument – prüft sie sogar, ob importierte Anlagen versteckte „police modes“ enthalten, also Funktionen zur Fernabschaltung oder Spionage.

Damit ist die GosTekhKomissiya mehr als nur eine technische Prüfbehörde. Sie ist der strategische Wächter über alles, was in Russland mit Kommunikation, Daten oder Technik zu tun hat. Und sie ist das Gremium, das Sanktionen nicht unterläuft – sondern neutralisiert. Denn sie entscheidet, ob ein westliches Gerät auf russischem Boden überhaupt als westlich gilt. Ihre Klassifikation macht es möglich, dass eine Maschine aus Europa durch juristische Umetikettierung zur „russischen Sondertechnologie“ wird – und damit aus dem Geltungsbereich von Exportverboten fällt. Dass die AZK Group die GFM-Maschine überhaupt klassifizieren lassen wollte, zeigt: Sie kennt die Spielräume – und testet ihre Grenzen. Dass es ein Streitfall wurde, zeigt, wie eng juristische Definitionsmacht, wirtschaftliche Interessen und militärische Nutzung miteinander verwoben sind. Ohne die Zustimmung der Kommission wäre selbst ein 40 Jahre altes Ungetüm aus Österreich nur ein Stück Altmetall. Es muss dringend vor einem florierenden Schattenmarkt für Mobilfunküberwachung, kompromittierte SIM-Karten und getarnte Minitelefonanlagen gewarnt werden. – allesamt in Russland produziert oder geprüft. In den besetzten Regionen der Ukraine tauchten geheimnisvolle, unbranded SIM-Karten mit russischer Vorwahl auf, deren Vertrieb eindeutig mit Überwachungszwecken verbunden war. Dies unterstützt die Aussage des internen Berichts, wonach ein Schattenmarkt für Mobilfunküberwachung in Russland wächst. Die Kommission selbst räumt ein, dass viele dieser Geräte über Drittländer in Umlauf gelangen – und dort weitreichende Abhörfunktionen beinhalten. Die Strafverfolgung solcher Praktiken sei „relativ milde“, heißt es trocken im Bericht. Für Europa ist diese Entwicklung ein doppelter Warnruf: Zum einen, weil Sanktionen ins Leere laufen, wenn technische Klassifikationen durch autoritäre Willkür ersetzt werden. Zum anderen, weil sich ein Kontrollsystem etabliert, das auch für Drittstaaten attraktiv wird – gerade in Regionen, in denen der Westen demokratische Standards fördern möchte. Was wie technischer Selbstschutz klingt, entpuppt sich als exportierte Repressionsarchitektur. Wie ernst die Bedrohung ist, zeigte sich zuletzt auch in Rotterdam: Dort wurde am 10. Juli 2025 ein 43-jähriger russischer Staatsbürger zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er sensible Daten des niederländischen Hightech-Herstellers ASML an Kontakte in Russland weitergegeben hatte. Der Mann, der über die Signal-App Produktionsinformationen zu Mikrochips versandte, wurde wegen Verstoßes gegen internationale Sanktionen schuldig gesprochen. Zwar wurde er von der Anklage freigesprochen, dafür Geld erhalten zu haben – doch das Gericht betonte, wie gefährlich die Weitergabe von Technologie sei: Sie könne „zur Stärkung der militärischen und strategischen Fähigkeiten Russlands beitragen“. ASML ist einer der weltweit führenden Hersteller von Maschinen zur Chipproduktion – und damit ein Ziel für jene Technologiebeschaffung, die durch Gremien wie die GosTekhKomissiya systematisch nutzbar gemacht wird. Der Fall zeigt: Während Europa mit Exportverboten operiert, arbeitet Russland längst daran, die Architektur westlicher Hochtechnologie von innen zu unterwandern. Die GosTekhKomissiya steuert keine Panzer. Aber sie reguliert das System, das Panzer möglich macht. Ihre Macht liegt in der Unsichtbarkeit – und genau das macht sie so gefährlich. Solange europäische Firmen – bewusst oder durch Ignoranz – in technische Lieferketten verwickelt sind, die am Ende in Izhevsk oder Perm enden, bleibt jede Sanktion nur ein Papiertiger. Solange autoritäre Staaten russische Kontrollarchitektur übernehmen, wird unsere Außenpolitik zur Rhetorik. Europa muss endlich verstehen: Die nächste Bedrohung kommt nicht als Rakete, sondern als Zertifikat. Und sie beginnt in einem Büro ohne Schild – in der Znamenka-Straße 19, Moskau.

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Ela Gatto
Ela Gatto
4 Monate zuvor

Deutschland hat weltweit den technischen und digitalen Anschluss verpasst.
In ganz Europa sieht es nicht sehr viel besser aus.

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