Chicago – Der Morgen begann harmlos. Dayanne Figueroa wollte nur Kaffee holen, bevor sie zur Arbeit fuhr. Dann geriet sie in eine Szene, die eher an ein Kriegsgebiet erinnerte als an eine Wohnstraße in West Town: Menschen, die schrien und hupten – das inzwischen verbreitete Signal, dass ICE im Viertel ist. Sekunden später krachte ein grauer SUV der Bundesbehörden in Figueroas Auto. Es war kein Unfall, kein Irrtum, sondern Teil eines Einsatzes, der völlig aus dem Ruder lief. Schwer bewaffnete, gezogene Waffen auf sie gerichtet, maskierte Bundesbeamte, unmarkierte Fahrzeuge,

Die Bilder zeigen, wie Agenten nach der Kollision mit gezogenen Waffen aussteigen, auf Figueroa zielen, ohne sich auszuweisen oder eine Erklärung zu geben. Sie reißen die Tür auf, ziehen die Frau an den Beinen aus dem Wagen, während Passanten rufen: „Ihr habt sie gerammt! Wir haben es auf Video!“ Die Beamten ignorieren die Rufe, zerren die Frau in einen roten Minivan und fahren davon. Ihr Auto bleibt mitten auf der Straße zurück – mit laufendem Motor, Schlüssel im Zündschloss, der Kaffeebecher noch im Halter.
Später erklärte das Heimatschutzministerium (DHS), Figueroa sei „schuld“ gewesen, sie habe „ein Regierungsfahrzeug gerammt“ und sich „gewaltsam gegen die Festnahme gewehrt“. Zwei Beamte seien verletzt worden. Die Behauptungen waren nicht nur absurd, sie waren schlicht gelogen. Figueroa wurde mittlerweile ohne Anklage freigelassen.

Ihr Fall steht exemplarisch für das, was in Trumps zweiter Amtszeit zum Alltag geworden ist: aggressive, undurchsichtige Einsätze, in denen zivile Rechte nebensächlich werden und Gewalt längst nicht mehr das letzte, sondern das erste Mittel ist. In Chicago häufen sich Berichte über Übergriffe bei Verhaftungen, Tränengaseinsätze in Wohngebieten und willkürliche Festnahmen von Menschen, die filmen oder einfach nur zusehen. Figueroa, eine US-Bürgerin, wurde an mehrere unbekannte Orte gebracht und durfte weder mit Familie noch mit einem Anwalt sprechen.

„Ich war schockiert und hatte Todesangst“, sagte sie. „Das Video beweist, dass sie in mich hineingefahren sind. Ich hatte nichts mit Protesten zu tun. Ich will Gerechtigkeit.“

Es ist kein Einzelfall. Nur einen Tag vor ihrer Festnahme ließ ein Bundesgericht Anklagen gegen einen geistig behinderten Mann aus Oak Park fallen, der bei einer Protestaktion angeblich Beamte „angegriffen“ hatte – ohne Beweise. Eine Grand Jury lehnte die Anklage gegen ein Ehepaar ab, das in Broadview bei einer Demonstration verhaftet worden war. Eine WGN-Produzentin wurde in Lincoln Square brutal festgenommen und sieben Stunden festgehalten – ohne irgendeine rechtliche Grundlage. Die Fälle häufen sich, man kämpft an, man fightet für Gerechtigkeit.
Währenddessen muss sich das DHS vor Gericht für seine Einsätze rechtfertigen. Mehrere Richter prüfen, ob die Behörde gegen frühere Anordnungen verstoßen hat, die den Einsatz von Gewalt gegen Zivilisten und Medienschaffende untersagen. Figueroas Geschichte ist mehr als ein tragischer Zwischenfall – sie ist ein Symptom einer entgleisten Staatsgewalt. Eine Frau, die zur Arbeit wollte, wurde behandelt wie eine Gefährderin. Ihr Verbrechen: zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Die Bilder zeigen keine Ausnahme, sondern ein System. Ein System, das längst gelernt hat, dass Angst die wirksamste Form von Kontrolle ist.
Und genau deshalb müssen wir uns wehren — klug, überlegt und mit festem Verstand. Friedlich, aber unerschütterlich. Recherchieren, aufdecken, juristisch vorgehen, Menschen aus der Haft holen: das ist unser Weg. Jede Festnahme, jede Freilassung ist ein Kapitel dieser Geschichte, die eines Tages auch diejenigen treffen wird, die heute das Unrecht befehlen. Entscheidend ist Ausdauer: der längere Atem, die Standhaftigkeit, der Mut, sich nicht einschüchtern zu lassen, egal welche Drohgebärden kommen. Nur wer diesen Kampf annimmt — mit klarem Kopf, rechtlicher Präzision und gesellschaftlicher Solidarität — kann das Vertrauen in Rechtsstaat und Würde wiederherstellen.
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