Verlorene Jahre, verlorene Leben – Wie Texas eine Katastrophe billigend in Kauf nahm

VonRainer Hofmann

Juli 10, 2025

Kerrville, Texas – Es hätte weniger gekostet als ein halbes Polizeiauto oder die Sicherheit im Gerichtsgebäude. Eine Million Dollar – so viel hätte ein Flutwarnsystem gekostet, das Dutzenden jungen Menschen am 4. Juli 2025 das Leben hätte retten können. Doch diese Summe war über ein Jahrzehnt hinweg offenbar immer gerade zu viel. Zu umständlich, zu laut, zu unpraktisch – so lauteten die Einwände. Und so starben Kinder in Zelten, Eltern im Auto, Helfer im Schlamm. Die Katastrophe von Kerr County war vorhersehbar. Und sie war vermeidbar. Es ist ein erschütterndes Bild, das sich dieser Tage im texanischen Hill Country zeigt: Zerschmetterte Fahrzeuge am Ufer des Guadalupe River, zerrissene Zelte im Morast von Camp Mystic, aufgelöste Gesichter vor improvisierten Leichenhallen. Mindestens 120 Menschen sind tot, viele weitere werden vermisst. Die meisten Opfer stammen aus Jugendcamps entlang des Flusses – einer Region, die seit Jahrzehnten als „flash-flood alley“ bekannt ist, als Hochwasser-Gasse der USA. Und dennoch: Kein funktionierendes Sirenensystem, keine automatischen Evakuierungsbefehle, keine zentral gesteuerte Frühwarnung war eingerichtet worden. Warum? Die Antwort ist ein Lehrbuch über politisches Versagen.

Schon nach der verheerenden Flut an einem Gedenkwochenende im Jahr 2015, bei der mehrere Menschen in Kerr County ums Leben kamen, forderten Experten ein modernes Frühwarnsystem. Sensoren, Sirenen, Funkverbindungen zu den Camps – das war der Plan. Und selbst der Preis war überschaubar: rund eine Million Dollar. Etwa so viel, wie der Landkreis alle zwei Jahre für die Sicherheit im Gerichtsgebäude ausgibt. Doch statt Zustimmung erntete die Idee Widerstand – wegen möglicher Lärmbelästigung. Die Sirenen könnten stören, hieß es. Der Ton zu schrill. Der Aufwand zu groß. Die Prioritäten: woanders. Die County-Kommissare suchten den Kompromiss: ein System ohne Sirenen, das zwar den Pegelstand misst, aber keine automatische Warnung auslöst. Doch auch das wurde letztlich nicht umgesetzt – weil weder der Bundesstaat noch die Stadt Kerrville ihre Beiträge leisten wollten. Die Stadt hätte für eine gemeinsame Förderung 50.000 Dollar beitragen müssen. Sie entschied sich 2017 einstimmig dagegen. Stattdessen investierten andere Städte – wie das nahegelegene Comfort – in ein funktionierendes Warnsystem. Dort ertönte bei den Regenfällen am 4. Juli ein durchdringendes Dreiminutensignal. Die Bewohner flohen rechtzeitig. In Kerr County war es still. Nicht einmal ein zinsloses Darlehen des texanischen Hochwasserfonds in Höhe von 950.000 Dollar – plus 50.000 Dollar Zuschuss – konnte die Verantwortlichen später überzeugen. Zu unattraktiv seien die Bedingungen gewesen, erklärte die zuständige Flussbehörde. Das Projekt wurde beerdigt. Und mit ihm, Jahre später, über hundert Menschen.

„Es war nicht genug Kampfgeist da. Aber diesmal muss es ihn geben“, sagt Nicole Wilson, Mutter zweier Töchter, die sie noch rechtzeitig aus einem Camp in Sicherheit brachte. Ihre Petition für ein Sirenensystem in Kerr County zählt bereits tausende Unterschriften. „Ob es nun Bundes-, Staats- oder Kommunalmittel sind – diesmal darf die Antwort nicht ‚Nein‘ lauten.“ Doch der politische Reflex folgt dem bekannten Muster: Schweigen, Wegducken, Vertagen. Gouverneur Greg Abbott bat um Zurückhaltung. Ex-Stadtrat Glenn Andrew, der 2017 gegen das Förderprojekt gestimmt hatte, erklärte: „Ich möchte darüber sprechen – aber nicht jetzt. Es ist noch zu frisch.“ Ein „zu frisch“, das in den Ohren der Angehörigen wie Hohn klingt. Der Zorn wächst. Raymond Howard, Stadtrat von Ingram in Kerr County, spricht aus, was viele denken: „Es ist unfassbar. Sie haben jahrelang darüber geredet, aber nie gehandelt. Für alles andere werden uns die Steuern erhöht – aber nicht für das, was wirklich zählt: Leben. Familien. Sicherheit. Das ist herzzerreißend.“ Schon 2016 hatte der Landkreis versucht, über das texanische Katastrophenschutzprogramm ein Förderprojekt zu starten. Doch der Antrag scheiterte an bürokratischen Anforderungen – unter anderem an einem fehlenden, aktuellen Gefahrenabwehrplan. Eine neue Bewerbung wurde vorbereitet, Sensoren geplant, Evakuierungsketten skizziert. Doch dann kam Hurricane Harvey. Die Mittel wurden umgeleitet – nicht nach Kerrville, sondern dorthin, wo der Sturm wütete. Der Landkreis blieb zurück. Ohne Sirenen. Ohne Schutz. 2019 beschlossen die Wähler in Texas eine neue Flut-Infrastrukturförderung. Mit stolzen 800 Millionen Dollar. Doch als die Upper Guadalupe River Authority im vergangenen Jahr erneut einen Antrag über 1 Million stellte, bot der Staat nur einen Bruchteil davon als Zuschuss an – der Rest als Kredit. Auch dieses Angebot wurde abgelehnt. Was bleibt, sind Trümmer. Und eine erschütternde Erkenntnis: Nicht der Regen war das Problem. Sondern das Wegsehen. Das Verschieben. Das Verweigern. Die Sirene, die nie installiert wurde, klingt nun als stilles Echo in jeder Statistik. In jeder Todesanzeige. In jedem verzweifelten Blick der Überlebenden. Ein Jahrzehnt lang hatte Texas Zeit. Ein Jahrzehnt lang entschied man sich – dagegen.

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Ela Gatto
Ela Gatto
3 Monate zuvor

So viel Leid
Aber stolz sein, dass Texas so wenig Steuern erhebt.
Keine Steuern, keine Investitionen.
Nur das geht über den Horizont der MAGA hinaus.
Stattdessen das Allheilmittel Beten (Ironie)

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