Trumps Feldzug gegen Chicago

VonRainer Hofmann

Oktober 5, 2025

Am Samstagmorgen verwandelte sich eine unscheinbare Kreuzung im Südwesten Chicagos in ein Spiegelbild amerikanischer Machtpolitik. Vor dem Hintergrund eskalierender Einwanderungsrazzien schoss ein Bundesbeamter auf eine Autofahrerin, die – so heißt es aus Washington – versucht habe, ein Einsatzfahrzeug zu rammen, bewaffnet mit einer halbautomatischen Waffe. Belege? Keine? Die Frau, eine US-Bürgerin namens Marimar Martinez, überlebte, wurde in ein Krankenhaus gebracht und später vom FBI in Gewahrsam genommen. Das Heimatschutzministerium erklärte, die Beamten hätten sich nur verteidigt, nachdem ihr Fahrzeug von „zehn Autos umzingelt“ worden sei. Doch Zeugen schildern die Situation anders. Eine Frau wurde angeschossen, ein weiterer Mann – Anthony Ian Santos Ruiz – verhaftet, nachdem angeblich auch er in den Vorfall verwickelt gewesen sei. Seine Mutter, Elizabeth Ruiz, schilderte, ihr Sohn habe sie während der Schüsse angerufen, panisch und verwirrt, ehe Agenten ihn überwältigten. Auf ihre Frage nach dem Grund seiner Festnahme erhielt sie keine Antwort.

Marimar Martinez und Anthony Ian Santos Ruiz

Stunden später standen die Straßen voller Demonstranten, viele mit amerikanischen und mexikanischen Fahnen, pfeifend, schreiend, manche mit Tränen in den Augen. „ICE go home“, riefen sie, während Bundesbeamte mit Pfefferkugeln zurückschossen. Aktuell arbeiten wir diesen Vorfall auf und werden morgen darüber weiter berichten. Doch die Szene, die sich in der Nähe der 39th Street und der South Kedzie Avenue abspielte, war mehr als ein lokaler Zwischenfall: Sie wurde zum Symbol dafür, wie weit Donald Trump inzwischen bereit ist zu gehen, um seine Vorstellung von „Recht und Ordnung“ mit militärischer Härte durchzusetzen.

Noch während Demonstranten am Tatort Parolen riefen und Tränengas in der Luft hing, hatte der Präsident längst die nächste Eskalationsstufe gezündet. 300 Soldaten der Illinois National Guard sollen, so die Anordnung aus dem Weißen Haus, „zum Schutz von Bundesbeamten und Bundesvermögen“ nach Chicago verlegt werden. Es ist die neueste Episode in einem beunruhigenden Muster: Trump lässt in immer mehr Städten Truppen aufmarschieren – gegen den erklärten Willen der jeweiligen Bundesstaaten. Während Illinois’ Gouverneur JB Pritzker von einem „unamerikanischen Ultimatum“ sprach, bezeichnete Trump die Metropolen, in denen seine Präsenz auf Widerstand stößt, als „Kriegszonen“. Die Rhetorik klingt nach Ausnahmezustand, der Ton nach Krieg.

In Oregon hat ein Gericht diesem Machtspiel vorerst Grenzen gesetzt. Bundesrichterin Karin Immergut stoppte die geplante Unterstellung der dortigen Nationalgarde unter Bundeskommando, weil die Proteste, auf die sich Trump berief, „klein und weitgehend ereignislos“ gewesen seien. Ihre Begründung erinnert an eine fast vergessene Selbstverständlichkeit: Amerika sei „eine Nation des Verfassungsrechts, nicht des Kriegsrechts“. Doch während Portland damit einen juristischen Schutzschild errang, begann in Chicago ein neues Kapitel der Einschüchterung. Bewaffnete und maskierte Beamte der Grenzschutzbehörde CBP patrouillierten in der Innenstadt, machten Festnahmen in Latino-Vierteln und lösten mit ihrem Auftreten eine Welle von Angst aus. Anwohner berichten von Tränengas in der Nähe von Supermärkten, von Türen, die ohne Durchsuchungsbefehl aufgebrochen wurden, und von einem Klima, das an Kriegsrecht erinnert.

Menschen auf der Flucht – Aus zahlreichen Häusern steigt Tränengas auf, nachdem Einsatzkräfte ihre Geschosse direkt in die Gebäude abgefeuert haben.
Einer Demonstrantin werden die Augen ausgewaschen, nachdem sie Tränengas abbekommen hat.

Gouverneur Pritzker reagierte wütend: „Es gibt keinen Grund für militärische Truppen auf dem Boden unseres Staates.“ Die Sicherheitslage, sagte er, sei unter Kontrolle, lokale Behörden arbeiteten zusammen, niemand habe die Bundesregierung um Hilfe gebeten. Doch die Anordnung aus Washington steht – und mit ihr ein gefährlicher Präzedenzfall. Schon zuvor hatte Trump Truppen nach Los Angeles, Washington, D.C., Memphis und New Orleans entsandt. Er spricht von „unlawful cities“, von „Feinden im Innern“ und von „gewalttätigen Kriminellen“, die nur durch militärische Mittel zu stoppen seien. Für viele erinnert die Sprache an vergangene Diktaturen, in denen politische Symbolik über juristische Grenzen triumphierte.

In Memphis rief Verteidigungsminister Pete Hegseth in der vergangenen Woche eine neue „crime task force“ aus, flankiert von Justizministerin Pam Bondi und Trumps Chefideologen Stephen Miller. Über 200 Beamte wurden „deputized“, also unter Bundeskommando gestellt. Mehr als 50 Festnahmen in zwei Tagen – Zahlen, die das Weiße Haus als Erfolg verkauft, Kritiker jedoch als gefährliche Militarisierung des zivilen Raums sehen. In New Orleans begrüßte der republikanische Gouverneur Jeff Landry den Schritt ausdrücklich, obwohl die Kriminalität dort 2025 auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahrzehnten gesunken ist. Was früher statistische Realität hieß, zählt in dieser Ära weniger als das politische Narrativ: Wer an Trumps Seite steht, darf seine eigene Wahrheit verkünden.

Kalifornien zeigt, wohin das führt. Als der Präsident im Sommer Marines und Nationalgardisten nach Los Angeles schickte, klagte Gouverneur Gavin Newsom – und gewann. Ein Bundesrichter erklärte die Maßnahme für wahrscheinlich rechtswidrig, doch das Berufungsgericht setzte die Entscheidung vorläufig aus. Der Streit geht weiter, die Truppen bleiben. Es ist ein Muster, das sich nun wiederholt: ein Präsident, der sich mit juristischen Hürden konfrontiert sieht, sie aber ignoriert, indem er vollendete Tatsachen schafft.

Unfassbare Bilder – Aus gepanzerten Fahrzeugen zielen Beamte auf die Zivilbevölkerung

Parallel dazu liefert sich das Innenministerium ein PR-Spektakel. Kristi Noem, Trumps Heimatschutzministerin, erklärte in einem Podcast, ICE-Agenten würden „überall“ beim Super Bowl präsent sein – dem größten Kulturereignis der USA. Ihre Worte klingen wie eine Drohung: „Nur gesetzestreue Amerikaner, die dieses Land lieben, sollten dort sein.“ Der Superstar Bad Bunny, der das Halbzeitprogramm gestalten wird und sich kritisch über Trumps Politik geäußert hat, wird damit indirekt zum Feindbild erklärt. Dass der Musiker aus Puerto Rico stammt, reicht offenbar aus, um ihn in der Rhetorik der Regierung in den Schatten von Verdacht und Loyalitätsprüfung zu stellen. Noem sagte wörtlich: „Sie (die NFL) mögen uns nicht, aber Gott wird uns segnen – und wir werden gewinnen.“

Diese Mischung aus religiöser Aufladung, nationalistischer Härte und bürokratischer Kälte ist zur Signatur von Trumps zweiter Amtszeit geworden. In den Straßen von Chicago, wo Schüsse fielen und Tränengasnebel durch Latino-Viertel zog, zeigt sich, was diese Politik in der Praxis bedeutet. Menschen bleiben zu Hause, Geschäfte schließen, Nachbarn flüstern über Nachtaktionen. „Meine Freunde wollen nicht mehr zur Arbeit gehen“, sagt ein Mann, der legal im Land ist. „Wir alle haben Angst.“ Eine junge Krankenschwester aus Gage Park ergänzt: „Egal ob legal oder nicht – ICE behandelt uns, als wären wir alle verdächtig.“

Verwandelt Amerika mehr und mehr in eine Diktatur

Was als „Schutzmaßnahme“ verkauft wird, trägt in Wahrheit das Gesicht der Einschüchterung. Das Weiße Haus spricht von „Recht und Ordnung“, doch auf den Straßen entsteht das Gegenteil: ein Klima der Angst, das die Demokratie aushöhlt, indem es Bürger und Feinde ununterscheidbar macht. Und während Gerichte in Oregon noch den Mut finden, Grenzen zu ziehen, setzt Trump sie in Illinois einfach außer Kraft. Der Präsident, der seit Monaten davon spricht, „die Kontrolle über das Land zurückzuerlangen“, scheint vergessen zu haben, dass Kontrolle ohne Legitimität kein Sieg ist – sondern eine Besetzung.

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Ela Gatto
Ela Gatto
20 Stunden zuvor

Außer Kontrolle ist der richtige Begriff.
Inszeniert Chaos und eine „gefährliche“ Lage und schlage sie dann mit dem Militär nieder.
Nachdem man zuverlässig den Notstand/Kriegsrecht ausgerufen hat.

Das Playbook eines jeden Autokraten/Diktator.

Erdogan hat es die letzten Jahre mehr wie deutlich gezeigt.
Vermischung von Staat mit Religion
Verhaftungen von Kritikern mit fadenscheinigen Gründen.
Einschränken von Demonstrationen
Willkürliche Verhaftungen
Verschmelzung von Legislative, Judikative und Exekutive unter Leitung des Autokraten.

Genau das will Trump.
Alle demokratischen Staaten und Städte (in republikanische Staaten) sind ihm im Weg.
Also wird eine Stadt nach der anderen belagert.

Ihr seid so nah dran. Es muss furchtbar sein.

Habt Ihr Belege, dass die Polizei (also keine Bundesbeamten?) hier ohne Not geschlossen hat?
Wer geschlossen hat?
Dann sind vielleicht Anwälte interessiert es vor Gericht zu bringen.

Der Gouverneur sollte die Gesinnung seiner Staatspolizei auch prüfen.
Denn das läuft eindeutig auf Trumplinie.

Traurig, dass der Supreme Court Racial Profiling zugelassen hat, obwohl es gegen den Verfassungszusatz verstößt.
Schande über diese korrupten Richter.

Josef Sanft
Josef Sanft
20 Stunden zuvor

Man kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Was für ein widerwärtiges Pack trifft dort Entscheidungen, von denen zig Millionen Menschen betroffen sind, und was für ein widerwärtiges Pack ( ICE im speziellen ) setzt diese Entscheidungen um. Wie sieht die nächste Eskalationsstufe aus ? “ Demokraten Sterne “ als Aufnäher als Pflicht für jeden, der die demokratische Partei unterstützt bzw. unterstützt hat ? Todesstrafe für Abtreibung nach Vorbild der Nazis ? ( wird ernsthaft diskutiert ! ). Ich komme mir vor wie in einem dystopischen Film, der den Sprung in die Realität geschafft hat.
Man kann nur noch ernsthaft hoffen, dass ein Punkt erreicht wird, wo das Militär sich entscheidet, die amerikanische Demokratie nicht einfach so vor die Hunde gehen zu lassen.

Muras R.
Muras R.
18 Stunden zuvor

So allmählich stellt sich mir bei jedem neuen Artikel die Frage, wieviel geschilderte Infamie, Bösartigkeit und Ungerechtigkeit ich noch ertragen kann, ohne das mir nicht permanent schlecht ist 😔

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