Die Aufnahmen aus Portland zeigen ein Land im Ausnahmezustand. Vor dem ICE-Gebäude verläuft eine blaue Linie – sie trennt das Gelände der Behörde vom öffentlichen Raum. Eine Grenze, die niemand bewusst überschreiten wollte. Zu sehen sind Demonstrierende, unbewaffnet, mit Schildern und Bannern, die auf Abstand bleiben. Eine Person tritt versehentlich für einen Moment über die Markierung – sie wird später festgenommen. Niemand sonst nähert sich der Linie. Und doch fallen Schüsse. ICE-Beamte feuern Gummigeschosse in die Menge. Auf dem Dach zielen bewaffnete Männer mit Gewehren auf Zivilisten, als befänden sie sich in einem Kriegsgebiet.
Diese blaue Linie steht für mehr als nur ein paar Meter Beton. Sie ist ein Symbol für das, was in den Vereinigten Staaten 2025 geschieht: Der Staat zieht Grenzen – und überschreitet sie selbst. ICE agiert längst nicht mehr wie eine Behörde, sondern wie eine paramilitärische Einheit, die auf jede Form von Widerspruch mit Gewalt reagiert.

Nur wenige Stunden später, am selben Ort, setzte sich das Schauspiel in anderer Form fort. Bei strömendem Regen rückten mehr als dreißig Polizisten an, um die Zelte der Demonstrierenden zu räumen. Die Stadt hatte die Maßnahme als Routineeinsatz angekündigt – „zur Wiederherstellung der Gehwegordnung“. Doch in Wahrheit war es ein Zeichen: Wer protestiert, soll verschwinden. Die Szene war chaotisch, begleitet von Blitz und Donner. Während Einsatzkräfte Planen und Pavillons niederlegten, halfen sich die Menschen gegenseitig, ihre Sachen zu retten – eine Gasflasche, medizinische Ausrüstung, Masken. Eine Frau im Rollstuhl wurde mitsamt ihres Zeltdachs aus dem Weg geschoben. Auf der anderen Straßenseite filmten rechte Streamer und jubelten, als die Zelte fielen.
Die Polizei sprach von „gesetzlicher Durchsetzung“, von Verstößen gegen Gehwegvorschriften, Alkoholverboten, Querungen außerhalb der Markierungen. In Wirklichkeit wirkte alles wie eine Botschaft: Jede Bewegung, jeder Atemzug, jedes falsche Wort kann kriminalisiert werden.

„Es hält uns nicht vom Protest ab“, sagte Pamela Hemphill, die früher Trump unterstützte und 2021 wegen ihrer Teilnahme am Sturm aufs Kapitol verurteilt wurde. Heute steht sie auf der anderen Seite – gegen dieselbe Macht, die sie einst verteidigte.

In Portland wurde nicht das Gesetz verteidigt, sondern eine Vorstellung von Kontrolle, die jede Distanz verloren hat. Eine Linie, die kaum jemand betrat, wurde zum Vorwand für Gewalt. Und eine Stadt, die sich Freiheit nennt, räumte in derselben Nacht das letzte Stück davon ab.
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