Es war kalt, es regnete in Strömen, und doch schien niemand der rund tausend Menschen auf der Burnside Bridge in Portland an diesem grauen Sonntagnachmittag zu frieren. Ihre Körper waren bemalt, manche bunt, manche mit politischen Botschaften, andere nur mit einem Hauch von Farbe bekleidet. Und dann legten sie sich hin – Dutzende, regungslos, mitten auf dem Asphalt, während Autos und Straßenbahnen auf beiden Seiten anhielten. Ein stiller Moment, ein „die-in“, eine szenische Unterbrechung des Alltags, die in Sekunden zur globalen Schlagzeile wurde: Portland hatte wieder einmal seinen eigenen Weg gefunden, Widerstand zu zeigen.
Der diesjährige World Naked Bike Ride war kein gewöhnlicher. Er nannte sich Emergency Ride, und das war keine Übertreibung. Seit Wochen rumort die Stadt über den Plan der Bundesregierung, neue föderale Sicherheitskräfte in die Metropolregion zu entsenden – offiziell, um „kritische Infrastruktur zu schützen“, inoffiziell, um Proteste einzudämmen, die als zu „anarchistisch“ gelten. Gleichzeitig steht die neue ICE-Anlage am südlichen Stadtrand kurz vor der Genehmigung – ein Betonmonolith, Symbol für Trumps Einwanderungspolitik und für viele Portlander ein moralischer Fremdkörper in einer Stadt, die sich selbst als Zufluchtsort versteht.
„Wir sind hier, um zu zeigen, dass unsere Körper nicht entwaffnet werden können“, sagte eine Teilnehmerin, während sie sich einen Regenumhang vom Leib riss. Sie stand auf dem nassen Asphalt, die Haut blau vom Wind, die Stimme ruhig. „Wenn sie uns den Raum nehmen, nehmen wir ihn uns zurück.“ Solche Sätze klangen an diesem Tag wie eine Rückkehr zu Portlands alten Wurzeln – zur Stadt der Barrikaden, der Künstler, der Körperfreiheit.
Der Zug begann gegen drei Uhr nachmittags am Oregon Convention Center, wo hunderte Fahrräder, bemalte Helme und improvisierte Schilder aufeinandertrafen. „Protect Bodies, Not Borders“ stand auf einem der Banner, „Naked for Justice“ auf einem anderen. Der Tross bewegte sich über die Straßen, begleitet von einem Mix aus Musik, Gelächter und dem rhythmischen Klackern nasser Ketten. Als die Gruppe die Burnside Bridge erreichte, die das Zentrum der Stadt wie eine pulsierende Ader über den Willamette River verbindet, kam sie abrupt zum Stillstand.
Dann geschah das, was Portland seit George Floyd nicht mehr gesehen hatte: Schweigen. Dutzende Fahrerinnen und Fahrer legten ihre Räder ab, ließen sich auf den Boden sinken, streckten Arme und Beine aus – totgestellt, ein „die-in“, wie es im Aktivismus heißt. Minutenlang nur das Rauschen des Regens und das ferne Hupen eines Autos, das nicht wusste, warum. Und dann Applaus, Rufe, Lachen, Trommeln. Aus einem kollektiven Schweigen wurde ein Triumph.
Das „Emergency“-Motiv dieses Jahres war doppelt codiert: ein Notruf gegen staatliche Übergriffigkeit, aber auch gegen das Vergessen. Portland, seit jeher Bühne und Zufluchtsort progressiver Bewegungen, hat in den vergangenen Monaten erlebt, wie radikale Gruppen kriminalisiert, soziale Projekte gekürzt und lokale Medien unter Druck gesetzt wurden. Die Teilnehmer des Naked Bike Ride verbanden daher alte Themen – Umwelt, Mobilität, Körperfreiheit – mit neuen, brennenden: Migration, Polizeigewalt, Föderalismus.
Offizielle Zahlen gibt es keine, die Polizei sprach von „mehreren hundert Teilnehmern“, Beobachter von über tausend. Die Organisatoren hatten die genaue Route bewusst geheim gehalten, um Störungen zu vermeiden. Das hinderte rechte Gegenprotestierende nicht daran, sich an verschiedenen Punkten der Innenstadt zu versammeln, teilweise mit Transparenten wie „God Hates Sin“ und „Repent, Portland!“. Ein Video, das auf sozialen Medien viral ging, zeigt einen Mann mit Bibel in der Hand, der am Straßenrand steht und ruft: „Shame on you!“ – während hinter ihm eine Gruppe junger Frauen lachend auf Fahrrädern vorbeizieht, bemalt mit den Worten: „We were born naked. You added shame.“
Für viele Beobachter war der Protest eine Demonstration von Selbstermächtigung – aber auch ein politisches Statement in einer Stadt, die sich zunehmend als moralischer Gegenpol zu Washington versteht. „In dieser Nacktheit steckt keine Provokation, sondern Wahrheit“, schrieb der Portland Mercury in seinem Kommentar am Abend. „Sie zeigt, dass politische Entblößung mehr Mut verlangt als jede Uniform.“ Selbst der lokale Sender KPTV, der sonst bemüht ist, Distanz zu wahren, sprach von „einer ungewöhnlich klaren Botschaft in einer ungewöhnlichen Form“. Die Brücke, auf der der „die-in“ stattfand, wurde zeitweise vollständig gesperrt. Doch es blieb friedlich, keine Festnahmen, keine Zwischenfälle – nur einige wütende Autofahrer, die in ihren SUVs hupten, während die Menge aufstand und weiterfuhr, Richtung Südosten, in Richtung jener ICE-Anlage, die für viele den eigentlichen Endpunkt dieser Fahrt symbolisierte.
Dort, am Zaun, endete der Protest in einer Mischung aus Musik, Tränen und Trotz. Die Polizei hielt Abstand. Der Regen hatte aufgehört, die Luft roch nach Asphalt und kaltem Metall. Ein paar Dutzend Teilnehmer hielten Schilder hoch: „No cages. No fear. No borders.“ Andere tanzten barfuß auf der Straße, während von einem kleinen Lautsprecher das Lied “Freedom of Choice” von Devo lief.
Die Reaktionen in konservativen Medien fielen erwartungsgemäß aus. MAGA-Kommentatoren sprachen von „moralischem Verfall“ und „pornografischem Aktivismus“. In Talkshows zitierten rechte Pastoren Bibelstellen über Scham und Zucht. Doch in Portland sah man das anders. Hier, wo politischer Widerstand oft in Kunst und Körper übergeht, hatte man einmal mehr gezeigt, dass Protest nicht durch Anstand gemessen wird, sondern durch Wirkung. Der „Emergency Ride“ war keine bloße Performance, sondern ein sichtbares Aufbäumen gegen eine Zeit, die wieder beginnt, den Körper zu kontrollieren – sei es durch Grenzzäune, durch Zensur oder durch Angst. Die Menschen auf der Burnside Bridge wussten das. Sie legten sich in den Regen, als wollten sie sagen: Wenn ihr uns die Freiheit nehmt, nehmen wir wenigstens das Wetter. Und in dieser Mischung aus Trotz, Schönheit und Verletzlichkeit lag – für einen kurzen Moment – alles, was Portland ausmacht.
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