In Berlin hängt seit Wochen die gleiche Einladung in manchen Feeds: „Europe Vibes“, „erste ESN-Studentenparty“, dazu Sektgläser, junge Gesichter, ein EU-Abgeordneter, der ein Grußwort spricht. Wer studiert oder im Austauschsemester hier ist, denkt automatisch an das, was „ESN“ seit Jahren bedeutet: Erasmus Student Network, internationale Kontakte, Buddy-Programme, Partys, bei denen Spanierinnen, Polen, Deutsche und viele andere zusammen feiern. Genau auf dieser Strategie setzt die neue „ESN-Studentenparty“ – nur dass dahinter nicht Erasmus steht, sondern die europäische Rechtsaußen-Partei „Europa der Souveränen Nationen“ und ein Milieu, in dem die AfD eine Schlüsselrolle spielt.


Um zu verstehen, wie perfide dieser Trick ist, lohnt der Blick auf das Original. Das Erasmus Student Network ist seit Ende der achtziger Jahre ein ehrenamtliches Netz von Studierenden, das Austauschprogramme mit Leben füllt: Hilfe beim Ankommen, Formulare, Wohnungssuche, Sprachabende, Stadtführungen, Ausflüge, Partys. Die Gruppen an den Hochschulen arbeiten eng mit Unis, ASten und International Offices zusammen. Wer zu einer ESN-Party geht, erwartet keine versteckte Parteizentrale, sondern ein bunt gemischtes Publikum, das Europa im Alltag erfahrbar macht – mit all seinen Sprachen, Biografien und Konflikten, aber ohne Rekrutierungskampagne für irgendeine Partei.

Genau dieses Vertrauen ist inzwischen zur Zielscheibe geworden. Unter derselben Abkürzung „ESN“ tritt seit 2024 die Partei „Europa der Souveränen Nationen“ auf – ein Zusammenschluss rechter und rechtsextremer Parteien aus mehreren EU-Staaten, darunter die AfD. Die Partei wurde nach den Europawahlen gegründet, sitzt mit einer eigenen Fraktion im Parlament und versteht sich als Sammelbecken für Kräfte, die europäische Integration zurückdrehen wollen und nationale Abschottung zum Programm machen. Dass sie für ihre „Europe Vibes“-Abende bewusst auf „ESN-Studentenparty“ setzt, ist kein Zufall. Der Name klingt nach Erasmus, Austausch und Campuskultur – geliefert wird aber eine Bühne für eine Partei, deren Ziel es ist, genau diese offene europäische Idee zu zerstören.

Der konkrete Ablauf ist immer ähnlich. In den Einladungen zur „ESN-Studentenparty in Berlin“ ist von Gästen aus Polen und den USA die Rede, von „Europe Vibes“, von einer scheinbar internationalen Mischung. Gleichzeitig wird stolz das Grußwort eines EU-Abgeordneten angekündigt: Dr. Alexander Sell, AfD-Politiker und führende Figur der ESN-Partei. Wo früher Studierende aus verschiedenen Ländern in studentischer Selbstverwaltung eine Erasmus-Party organisiert hätten, steht nun ein Rechtsaußen-Funktionär mit Mikrofon, der die Gelegenheit nutzt, seine Struktur im Milieu erster Semester, Erasmus-Studierender und junger Berliner zu verankern. Wer nur „ESN“ liest, merkt womöglich erst im Saal, dass er auf einer Parteiveranstaltung gelandet ist.

Dieses Zusammenspiel von Schein und Wirklichkeit wirkt noch bedrohlicher, wenn man sich anschaut, welche Personen im Umfeld der AfD gerade nach vorne geschoben werden. Jean-Pascal Hohm, Landtagsabgeordneter aus Brandenburg, ist neuer Vorsitzender der AfD-Jugend „Generation Deutschland“. Er gilt seit Jahren als gut vernetzt im rechtsextremen Spektrum, taucht in Berichten des brandenburgischen Verfassungsschutzes immer wieder auf und wird dort mit völkischen und migrationsfeindlichen Positionen zitiert. Sein Ziel formuliert er offen: eine „Migrationswende“, die dafür sorgen soll, dass „Deutschland die Heimat der Deutschen bleibt“. Genau diese Linie findet sich in der Bildsprache seiner Kampagnen wieder – und sie richtet sich erkennbar an junge Leute.

Wer durch seine Social-Media-Kanäle scrollt oder seine Plakate betrachtet, sieht ein durchgehendes Muster. Mal warnt Hohm vor angeblichem „Asylbetrug“, den das Bundesamt für Migration nur noch hinnehme. Mal fordert er „Sachleistungen statt Bürgergeld“ für junge Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Zahl sich in Deutschland „verzehnfacht“ habe. Dann wieder heißt es, deutsche Städte stünden kurz vor dem Kollaps und müssten durch das Ende der „Massenmigration“ gerettet werden. Auf anderen Motiven spricht er davon, dass sich „die Mehrheit“ auf Weihnachtsmärkten nicht mehr sicher fühle und „Grenzen sichern, Bürger schützen“ die einzige Antwort sei. Dazu kommen Slogans wie „Linken Terror konsequent bekämpfen“ oder „Ausbeutung unseres Sozialsystems stoppen“, garniert mit der Behauptung, jeder zweite Bürgergeldempfänger habe keinen deutschen Pass.

Wer diese Aussagen nüchtern gegenprüft, erkennt schnell, wie selektiv und verlogen hier mit Zahlen und Begriffen gearbeitet wird. Ja, ungefähr die Hälfte der Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger besitzt derzeit keine deutsche Staatsangehörigkeit. Darunter sind aber mehrere Hunderttausend Menschen aus der Ukraine, die vor einem Angriffskrieg geflohen sind, sowie Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder anderen Kriegs- und Krisenregionen. Viele von ihnen sind Kinder, viele andere besuchen Integrationskurse oder arbeiten in Jobs, die allein nicht zum Leben reichen. Wer von „Ausbeutung unseres Sozialsystems“ spricht, verschweigt diese Zusammenhänge bewusst und macht aus einer Schutzleistung, mit der ein reiches Land auf Krieg, Flucht und Vertreibung reagiert, einen angeblichen Betrug am „deutschen Steuerzahler“.

Ähnlich verfährt Hohm bei Themen wie Asyl und innere Sicherheit. Dass Verwaltungsverfahren überlastet sind, Behörden zu langsam reagieren oder Fehler machen – alles bekannt und berechtigt kritisierbar. Doch aus bürokratischen Missständen „Asylbetrug“ und „Kapitulation vor Missbrauch“ zu konstruieren, legt die Streitaxt an das Grundrecht auf Asyl und zeichnet die Gruppe der Schutzsuchenden als Täter. Wenn Hohm behauptet, Städte und Gemeinden stünden kurz vor dem Zusammenbruch, weil zu viele Geflüchtete kämen, blendet er systematisch aus, dass diese Kommunen auch unter Wohnungsnot, jahrelanger Kürzungspolitik und schlechten Löhnen leiden. Probleme, die es schon lange vor seiner Zeit gab – und die sich nicht lösen lassen, indem man von „Massenmigration“ spricht und Abschiebefantasien bedient.
Genau dieses Propaganda-Muster macht den Schulterschluss zwischen ESN-Partei, AfD und „Generation Deutschland“ so gefährlich. Auf der einen Seite gibt es scheinbar harmlose Studierendenpartys mit internationalen Flaggen und Erasmus-Feeling. Auf der anderen Seite eine Jugendorganisation, deren Vorsitzender in seinem Alltag die Abschaffung humanitärer Standards fordert, Geflüchtete als Betrüger zeichnet und das Bild einer bedrohten Nation pflegt, die sich angeblich nur durch Abschottung retten könne. Dazwischen stehen tausende junge Menschen, die neu an der Uni sind, zum ersten Mal in einer Großstadt leben, Anschluss suchen – und im Zweifel nicht im Detail wissen, wer Alexander Sell oder Jean-Pascal Hohm sind und wofür sie politisch stehen.
„Trump legt Friedensplan vor – Die EU will lieber weiter Eure Steuergelder verpulvern 190 Milliarden Euro wurden schon nach Kiew überwiesen. Bis zu 30 Prozent wurden dabei unterschlagen: Das sind 50 Milliarden Euro für goldene Toiletten und Selenskyjs korruptes Regime“ – (Alexander Sell, 27. November 2025) –
Gerade Erstsemester und Austauschstudierende sind anfällig für genau diese Form von Werbung. Sie kennen die Szene nicht, sie sehen „ESN“, „Europe Vibes“, „Studentenparty“ – und nehmen an, es gehe um das, was sie von Erasmus-Veranstaltungen anderswo kennen. Wer dann in Cottbus oder Berlin auf einer Veranstaltung landet, bei der plötzlich AfD-Funktionäre reden, Plakate von „Generation Deutschland“ auftauchen oder Forderungen nach „Sachleistungen statt Bürgergeld“ in den Raum gestellt werden, ist längst Teil einer Inszenierung, die genau so geplant war. Es geht nicht um einen netten Abend, sondern um das Gefühl, dass diese Politik „eigentlich ganz normal“ sei und nur das ausspricht, was „alle denken“.
Deshalb ist es wichtig, die Mechanik dahinter offen zu legen. Der Name ESN ist hier nicht zufällig gewählt, sondern bewusst gekapert. Die rechtsextreme Partei nutzt den Ruf des Erasmus Student Network, um sich Seriosität und Campusnähe zu leihen, die sie ohne diesen Trick nicht hätte. Und „Generation Deutschland“ versucht parallel, mit Gesichtern wie Hohm das Bild einer modernen, dynamischen Jugendbewegung zu zeichnen – während inhaltlich die gleiche alte, wenn nicht noch schlimmere, Mischung aus Ausgrenzung, Feindbildern und autoritären Antworten bedient wird. Wer nur auf die Oberfläche schaut, sieht ein Hipster-Design und hört Technomusik. Wer tiefer schaut, erkennt eine politische dunkle Strategie.

Die Konsequenz daraus kann nicht sein, dass Studierende sich gar nichts mehr trauen oder jede Party für eine Falle halten. Aber es braucht ein Minimum an Aufmerksamkeit. Wer zu einer „ESN-Party“ eingeladen wird, sollte überprüfen, ob es sich um das Erasmus Student Network an der eigenen Hochschule handelt – mit erkennbaren Ansprechpartnern, Uni-Mailadressen, offiziellen Social-Media-Kanälen. Gibt es kein Impressum, aber ein Parteienlogo? Wird ein AfD-EU-Abgeordneter als Ehrengast angekündigt? Tauchen Slogans auf, die nach Kampagne und nicht nach studentischem Engagement klingen? Dann ist klar, in welchem Umfeld man sich bewegt – und jede und jeder kann entscheiden, ob man diesem Umfeld wirklich seine Zeit und seine Daten schenken will.
Universitäten und echte ESN-Gruppen sind hier genauso gefragt wie Medien. Hochschulen sollten offen erklären, wofür das Erasmus Student Network steht und wo die Grenzen zu parteipolitischen Strukturen verlaufen. ESN-Sektionen können in ihren Kanälen darauf hinweisen, dass sie mit der ESN-Partei nichts zu tun haben. Und Journalistinnen und Journalisten sollten „ESN-Studentenpartys“ nicht als harmloses Studenten-Event durchgehen lassen, sondern genau hinschauen, welche Strategien dahinterstecken. Wer diese Dinge offen anspricht, nimmt jungen Menschen nichts weg – er gibt ihnen die Information, die sie brauchen, um selbstbewusst zu entscheiden. Zum aktuellen Zeitpunkt sieht es so aus, als ob die Medienlandschaft in Deutschland versäumt hat, das Phänomen „ESN-Studentenpartys unter dem Label ESN“ systematisch zu durchleuchten.
- Die ESN-Partei „Europa der Souveränen Nationen“ ist eine 2024 gegründete europäische Partei, die von rechten und rechtsextremen Parteien getragen wird, darunter die AfD; sie nutzt das Kürzel ESN und ist mit der Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“ im Europaparlament vertreten.
- Alexander Sell (AfD) war zwischen 2024 und 2025 Vorsitzender der ESN-Partei.
- „Generation Deutschland“ ist die neue, eng an die AfD angebundene Jugendorganisation; Jean-Pascal Hohm, Landtagsabgeordneter aus Brandenburg, wurde Ende November 2025 mit über 90 Prozent der Stimmen zu ihrem Vorsitzenden gewählt und gilt laut mehreren Berichten als gut vernetzt in der rechtsextremen Szene; der brandenburgische Verfassungsschutz führt ihn im Einstufungsvermerk.
- Der Anteil ausländischer Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger liegt aktuell bei knapp der Hälfte; viele davon sind Geflüchtete aus der Ukraine und aus wichtigen Asylherkunftsländern.
Am Ende geht es um nicht weniger als die Frage, ob Rechtsextreme es schaffen, sich als Teil normaler Studierendenkultur zu tarnen. Eine Studentenparty ist ein Ort, an dem Freundschaften beginnen, Beziehungen, politische Debatten – und manchmal auch Radikalisierungen. Wenn ausgerechnet dort mit bewusst irreführenden Labels gearbeitet wird, sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen. Nicht, weil Feiern gefährlich wäre, sondern weil nichts harmlos ist, was sich auf vorgespielte Unschuld stützt. Wer jungen Leuten unter Erasmus-Flagge eine Rechtsaußen-Partei verkauft, zeigt, wie viel er von ihnen hält. Die Antwort darauf sollte klar sein: hinschauen, widersprechen, aufklären, Alternativen stärken – und genau dort laut werden, wo andere auf Verwechslung setzen.
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