Die Verdrehung der Wirklichkeit – warum Alice Weidel die Welt erklärt, ohne sie je gesehen zu haben

VonRainer Hofmann

September 4, 2025

Es gibt Bilder, die mehr sagen als tausend Worte. Das Foto von einem Flugzeug auf dem Rollfeld, dazu die Schlagzeile „Afghanen verpassen Flug, weil sie shoppen waren“, ist so ein Bild. Und es gibt Politikerinnen, die aus solchen Schlagzeilen einen politischen Feldzug stricken. Alice Weidel, die Frontfrau der AfD, hat das Motiv aufgegriffen und in Wahlkampfmunition verwandelt: „Mit uns verpasst niemand den Flieger zurück nach Hause. Versprochen.“ Es ist ein Slogan, der kalkuliert Empörung erzeugt, ein Versprechen, das Härte suggeriert, und ein Statement, das von den Realitäten der Welt so weit entfernt ist wie das schöne Einsiedeln von Kabul.

Denn was hier verschwiegen wird, ist ebenso relevant wie das, was gesagt wird. Ja, zwei Frauen verpassten einen Anschlussflug in Istanbul, weil sie shoppen waren. Das ist banal, fast lächerlich, und es war kein politischer Skandal, sondern eine menschliche Nachlässigkeit, die innerhalb von 48 Stunden korrigiert wurde. Beide Frauen sind mittlerweile in Hannover angekommen, leben in Sicherheit. Daraus aber eine generelle Anklage gegen Flüchtlinge zu konstruieren, sie als kollektiv fluguntauglich und disziplinlos darzustellen, ist eine absichtsvolle Verzerrung. Es ist ein politischer Reflex, der nicht auf Aufklärung, sondern auf Stimmungsmache zielt.

Alice Weidel verbindet solche Episoden mit ihrer Grundthese: Deutschland müsse die Aufnahme afghanischer Ortskräfte sofort stoppen, man dürfe sich nicht von „NGO-getriebenen Forderungen“ erpressen lassen. Sie formuliert dies aus ihrem schweizerischen Refugium heraus, mit Blick auf den oberen Zürichsee, während in Afghanistan Frauen wieder aus Schulen vertrieben werden, Journalisten verfolgt werden, und ehemalige Mitarbeiter deutscher Hilfsorganisationen untertauchen müssen, weil die Taliban Todeslisten führen. Wer sich die Mühe macht, in Kabul, Masar-e Scharif oder Herat nachzufragen, hört andere Geschichten: von Lehrern, die ihre Kinder verstecken, von Frauen, die heimlich Unterricht geben, von Menschen, die jeden Tag fürchten, dass an ihrer Tür geklopft wird. Das alles lässt sich nicht aus dem Blickwinkel einer Luxuswohnung erfassen.

Man könnte Frau Weidel anbieten, uns auf Reportagen zu begleiten. Sie könnte sehen, wie in der Ostukraine Menschen seit über zweieinhalb Jahren in Kellern leben, weil russische Artillerie die Städte beschießt. Sie könnte sich davon überzeugen, dass Wladimir Putin nicht der große Friedensgarant ist, als der er in Teilen der deutschen Rechten verklärt wird, sondern ein Kriegsverbrecher, dessen Truppen Folterkeller, Gräber und verschleppte Kinder hinterlassen haben. Sie könnte die Gesichter derer sehen, die den Krieg nicht überlebt haben. Und vielleicht würde sie dann vorsichtiger sein, bevor sie Begriffe wie „Umsiedlung“ in den Mund nimmt, einen Kriegsverbrecher öffentlich verteidigt, als ginge es um einen logistischen Vorgang und nicht um Leben und Tod. Und hier kommt die Verantwortung der Wähler ins Spiel. Die allermeisten AfD-Wähler haben Afghanistan nie gesehen, haben nicht in der Ostukraine gestanden, wenn die Sirenen heulen, sie kennen das Leben von Ortskräften, die für deutsche NGOs gearbeitet haben, nur aus zweiter Hand – und vornehmlich aus dem Zerrspiegel ihrer eigenen politischen Genossenschaft. Auch würden wir unsere Reportage, „Die gestohlene Generation: Recherche über die systematische Umerziehung Russlands von ukrainischer Kinder in den besetzten Gebieten“ unter dem Link https://kaizen-blog.org/die-gestohlene-generation-recherche-ueber-die-systematische-umerziehung-russlands-von-ukrainischer-kinder-in-den-besetzten-gebieten/ oder „Kein Brot, kein Laut – Afghanistans Kinder sterben leise“ unter dem Link https://kaizen-blog.org/kein-brot-kein-laut-afghanistans-kinder-sterben-leise/ Frau Weidel und Wählerschaft empfehlen.

Was Frau Weidel betreibt, ist die Kunst der Verdrehung. Sie nimmt einzelne Episoden – eine verpasste Maschine, einen Brandbrief von Flüchtlingen, eine NGO-Pressemitteilung – und gießt sie in ein Narrativ, das lautet: Deutschland wird überrannt, es braucht eine harte Hand. Dass die Realität komplexer ist, dass die Bundeswehr und Hilfsorganisationen diesen Menschen Schutz zugesagt haben, dass es eine moralische und rechtliche Verantwortung gibt, wird ausgeblendet. Es ist einfacher, die Welt in Schlagworten zu erklären, als sie auszuhalten. Einfacher, im Netz Zitate von Elon Musk zu teilen, als sich mit den Folgen von Krieg, Flucht und Völkermord auseinanderzusetzen.

Noch absurder, leider auch bedenklich, wird es, wenn man sieht, wie Weidel und ihre Partei inzwischen polemischen Wahlkampf führen. Sie feiert Umfragen, in denen die AfD in Sachsen-Anhalt heute bei 39 Prozent liegt, als sei das ein Freifahrtschein für völkische Politik, und verkündet stolz: „Man wird nicht mehr an der AfD vorbei regieren können.“ Das ist kein nüchterner Befund, das ist eine Drohung an die Demokratie. Noch grotesker ist das Zitat, das Weidel auf ihren Kanälen großflächig verbreitet – und das tatsächlich von Elon Musk stammt: „Either Germany votes @AfD or it is the end of Germany.“ Musk postete diesen Satz am 31. August 2025 auf X und hat damit erneut offen für die AfD geworben. Als Arbeitgeber in Deutschland hat Musk bereits gezeigt, wie gering er Arbeitsrechte schätzt. Das ist keine Analyse, das ist Apokalypse-Marketing – und es vergiftet das politische Klima Tag für Tag ein Stück mehr.

Es wäre wohltuend, wenn Alice Weidel nicht nur aus der Distanz urteilen würde. Wenn sie sich der Wirklichkeit aussetzte, die sie so gerne kommentiert. Dann würde sie sehen, dass hinter jeder „verpassten Maschine“ ein Mensch steht, der vielleicht sein Leben riskiert hat, um an Bord zu kommen. Und dass die eigentliche Frage nicht lautet, wer den Flieger verpasst, sondern wer den moralischen Kompass verloren hat.

Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
6 Comments
Älteste
Neueste Meistbewertet
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Lea
Lea
3 Monate zuvor

Es wäre wohltuend, wenn Alice Weidel nicht nur aus der Distanz urteilen würde. Wenn sie sich der Wirklichkeit aussetzte, die sie so gerne kommentiert.“ Das wird nie und nimmer geschehen. Wobei, „aus der Distanz heraus urteilen“ vielleicht schon, wenn nämlich die AfD wirklich an der Macht wäre und sie als bislang Front-Lesbe ausgedient und es so gerade eben noch in ihr Schweizer Refugium geschafft hätte…

Ela Gatto
Ela Gatto
3 Monate zuvor

Weidel, Höcke, Krankenhaus und Konsorten Leben in ihrer eigenen gestrickten Realität.

Das sie reflektieren, sich die wahren Gegebenheiten anschauen …. das ist so unwahrscheinlich wie Hitler, Göbbels und Co beim Besuch eines Konzentrationslagers Gewissensbisse bekommen hätten.

Verbohrte Ideologie bleibt verbohrte Ideologie.

Gabi B.
Gabi B.
3 Monate zuvor

Manchmal wünsche ich mir die Schweiz wäre nicht immer so zurückhaltend und neutral, und man würde die Weidel ausweisen…..
Für mich ist die Frau ein Beispiel an grenzenloser Verlogenheit!
In ihrem deutschen „Wohnort“ lässt sie sich vermutlich deshalb kaum blicken, weil sie dort sehr unbeliebt und nicht wirklich willkommen ist…
Zeit diese Partei zu verbieten!

de_DEGerman
6
0
Deine Meinung würde uns sehr interessieren. Bitte kommentiere.x