Die schleichende Normalisierung des Extremen

VonRainer Hofmann

August 13, 2025

Die Republik steht an einem Kipppunkt. 26 Prozent für die AfD sind mehr als eine statistische Anomalie – sie sind das Symptom einer fundamentalen Verschiebung, deren Tragweite wir möglicherweise erst begreifen werden, wenn es zu spät ist. Was sich hier manifestiert, ist nicht einfach Protestverhalten oder temporäre Unzufriedenheit. Es ist die systematische Erosion demokratischer Grundfesten durch eine Bewegung, die gelernt hat, die Schwächen des Systems für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Mechanismen dieser Machtverschiebung sind perfide in ihrer Subtilität. Begriffe wie „Remigration“, „Umvolkung“ oder „Altparteien“ haben sich wie ein Virus in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschlichen. Selbst Menschen, die sich als Demokraten verstehen, verwenden mittlerweile unbewusst Vokabular, das noch vor wenigen Jahren eindeutig dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet wurde. Die semantische Verschiebung ist kein Zufall – sie ist Strategie. Wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert das Denken. Wer das Denken kontrolliert, kontrolliert irgendwann die Politik.

Der transatlantische Resonanzraum verstärkt diese Entwicklung. Trump hat vorgemacht, wie man demokratische Institutionen von innen zerstört, während man sich gleichzeitig als deren Retter inszeniert. Seine Rückkehr ins Weiße Haus sendet ein fatales Signal an all jene, die von autoritärer Macht träumen. Wenn Merz tatsächlich schon von seinem eigenen Kanzleramt träumt, komplett mit rotem Knopf für die Bratwurstbestellung, dann mag das als Satire durchgehen – doch die Sehnsucht nach dem starken Mann, nach klaren Verhältnissen, nach einem, der „durchgreift“, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Komplizenschaft des Establishments

Die bittere Wahrheit ist: Die aktuelle schwarz-rote Bundesregierung agiert wie der beste Wahlkampfhelfer der AfD. Nach dem Scheitern der Ampel hatte die große Koalition die historische Chance, Stabilität und Vertrauen zurückzugewinnen. Stattdessen erleben wir eine müde Neuauflage der GroKo, die schon in ihrer letzten Inkarnation unter Merkel die Menschen in die Arme der Populisten trieb. Merz, der sich als Erneuerer inszenieren wollte, und die SPD, die eigentlich in die Opposition gehört hätte, klammern sich aneinander wie Ertrinkende – und ziehen sich dabei gegenseitig unter Wasser. Das Déjà-vu ist deprimierend: Die gleichen ritualisierten Streitigkeiten, die gleiche Mutlosigkeit, die gleiche Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Die SPD blockiert sich selber gegen jeden Reformversuch, der ihre Klientel beruhigen könnte, und, der eigen Job ist ja nicht das schlechteste Plätzchen in heutiger Zeit, die Union jede Politik, die nach sozialem Ausgleich riecht. Was bleibt, ist der kleinste gemeinsame Nenner, sie nerven einen nur noch – und der Fakt ist zur Qualität der Politik mal nicht mikroskopisch klein. Und in diesem Vakuum gedeihen die Rechtspopulisten prächtig. Sie müssen keine Lösungen anbieten, es reicht, auf das Versagen der anderen zu zeigen – und die GroKo 2.0 liefert täglich neue Belege für die These vom „Parteienkartell“. Sie müssen keine komplexen Zusammenhänge erklären, es genügt, Schuldige zu benennen. Die Migranten, die EU, die „Altparteien“ – das Arsenal der Feindbilder ist unerschöpflich und beliebig austauschbar.

Was dabei auf der Strecke bleibt, ist nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit des Landes. Während andere Nationen in Bildung und Innovation investieren, verliert sich auch diese Regierung in der Verwaltung des Status quo. Die großen Weichenstellungen – Digitalisierung, Bildungsreform, Infrastrukturmodernisierung – bleiben weiterhin aus, während man sich in der gegenseitigen Blockade einrichtet. Aber, hey, die Regierung schiebt jetzt auch Nachts die Menschen ab, und wenn Du Deinen Rollstuhl mitnehmen willst, vergiss das mal ganz schnell Bruder.

Das Gift der falschen Gewissheit

Das Paradox unserer hyperinformierten, wo auch immer die Informationen herkommen, Gesellschaft: Nie war Wissen zugänglicher, nie waren Fakten leichter überprüfbar, bis zu einer gewissen Grenze aber auch nur – und trotzdem triumphiert die Überzeugung des Nichtwissens. Aber es ist kein sokratisches Nichtwissen, keine intellektuelle Demut. Es ist ein trotziges, militantes Nichtwissen-Wollen, eine bewusste Entscheidung gegen Fakten, die nicht ins Weltbild, schlimmer noch, in das eigene Egobild passen. Die AfD-Wähler sind nicht uninformiert. Sie haben sich entschieden, bestimmte Realitäten nicht anzuerkennen. Der Klimawandel? Eine Erfindung der Eliten. Die Komplexität globaler Wirtschaftskreisläufe? Globalisten-Propaganda. Die Notwendigkeit europäischer Zusammenarbeit? Verrat am deutschen Volk. Dieses selbstgewählte Nichtwissen ist immun gegen Argumente, weil es sich nicht als Unwissen versteht, sondern als höhere Einsicht. Ausländer, „na hören Sie doch auf“, das geht doch gar nicht – Die AFD lebt in ihrem asozialen Reinheitsgebot.

Die sozialen Medien haben diese Entwicklung nicht verursacht, aber sie haben sie in ungekannte Dimensionen katapultiert. In den geschlossene Diskurswelt von Telegram und X braut sich ein toxisches Gebräu aus Halbwahrheiten, Fakes, Verschwörungsmythen und blankem Hass zusammen. Die Algorithmen, programmiert auf maximale Verweildauer, belohnen das Extreme, das Empörende, das Spaltende. Wer differenziert, verliert. Wer polarisiert, gewinnt Reichweite. Die Diskussionskultur folgt mittlerweile tatsächlich den Gesetzen des Kriegsrechts. Es gibt keine Neutralität mehr, keine Grautöne, keine Kompromisse. Entweder du bist für uns oder gegen uns. Entweder du bekennst dich zur reinen Lehre oder du bist ein Verräter. Diese Freund-Feind-Logik, einst Kennzeichen totalitärer Systeme, hat sich in der demokratischen Öffentlichkeit etabliert.

Die Internationale der Autoritären

Der Aufstieg des Rechtspopulismus folgt einem globalen Muster. Von Trumps Amerika über Orbáns Ungarn bis zu Melonis Italien – überall dieselben Mechanismen: Die Mobilisierung von Abstiegsängsten, die Konstruktion von Sündenböcken, das Versprechen der Rückkehr zu einer imaginierten glorreichen Vergangenheit. „Make America Great Again“ und „Deutschland den Deutschen“ sind Variationen desselben reaktionären Grundmotivs. Diese Bewegungen verstehen sich nicht als Zerstörer der Demokratie. Sie inszenieren sich als deren wahre Verteidiger, als Stimme des „echten“ Volkes gegen eine korrupte Elite. Diese Umdeutung ist brillant in ihrer Perfidie: Die Antidemokraten als Demokratieretter, die Spalter als Vereiniger, die Hassprediger als Wahrheitssprecher. Die Gründe für ihren Erfolg sind vielschichtig. Da ist die ökonomische Verunsicherung durch Globalisierung und Digitalisierung. Da ist der Verlust traditioneller Gewissheiten in einer sich rasant wandelnden Welt. Da ist die Überforderung durch Komplexität, die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und da ist, nicht zuletzt, das Versagen der etablierten Politik, überzeugende Zukunftsvisionen zu entwickeln.

Doch all diese Faktoren erklären nicht die Vehemenz, mit der sich Menschen radikalisieren. Es ist, als hätte sich ein Ventil geöffnet, durch das lang unterdrückter Hass entweicht. Die dünne Schicht der Zivilisation, mühsam über Jahrzehnte aufgebaut, bröckelt in erschreckender Geschwindigkeit.

Der Punkt ohne Wiederkehr

Es ist fünf vor zwölf, vielleicht später. Mit jedem Prozentpunkt, den die AfD gewinnt, normalisiert sich das früher Undenkbare. Mit jedem übernommenen Narrativ, jeder sprachlichen Konzession, jeder taktischen Anbiederung der demokratischen Parteien verschiebt sich das Koordinatensystem weiter nach rechts. Die Geschichte lehrt uns, dass Demokratien nicht mit einem großen Knall enden. Sie sterben schleichend, Stück für Stück, Kompromiss für Kompromiss. Erst unmerklich, dann plötzlich. Die Weimarer Republik wurde nicht an einem Tag zerstört. Es war ein Prozess der graduellen Vernichtung, der Normalisierung des Extremen, des Versagens der demokratischen Kräfte. Die Parallelen sind beunruhigend. Auch damals gab es eine Wirtschaftskrise, auch damals versagte das politische Establishment, auch damals unterschätzten die bürgerlichen Kräfte die Gefahr von rechts. Auch damals glaubte man, die Extremisten „einbinden“ und „entzaubern“ zu können.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen. Die Entscheidungen der nächsten Monate werden darüber bestimmen, ob die deutsche Demokratie robust genug ist, dieser Herausforderung zu widerstehen. Die 26 Prozent für die AfD sind keine Momentaufnahme – sie sind ein Weckruf. Die Frage ist nur: Hören wir ihn noch, oder haben wir uns bereits an den Alarmton gewöhnt? Die wahre Tragödie liegt nicht in der Stärke der Rechtspopulisten, sondern in der Schwäche ihrer Gegner. Wenn die demokratischen Kräfte weiterhin mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit der Verteidigung der offenen Gesellschaft, wenn sie weiterhin den Fehler machen, den Extremisten rhetorisch und thematisch hinterherzulaufen, dann wird aus dem „Fünf vor Zwölf“ sehr schnell ein „Fünf nach Zwölf“. Und dann wird es zu spät sein für die Erkenntnis, dass Demokratie nichts ist, was man hat, sondern etwas, was man jeden Tag aufs Neue verteidigen muss.

Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und auch Deine Unterstützung.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
6 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Was da als rechte Faschistenwelle über Europa rollt ist furchtbar.

Eine Partei.die 26% in der Umfrage hat …. wo soll das hinfûhren?

Die anderen Parteien sollten ihre Ideologien und starren Forderungen über Bord werfen und sich gemeinsam dagegen wehren.

Nur das wird nie passieren.
Jeder kochen sein Süppchen. Jeder will seine Machtposition halten und sein Programm durchdrücken.

Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Aber wir dürfen das Andere Soektrum bicht vergessen.
Im Bund an der 5% Hürden gescheitert, aber in einigen Bundesländern in der Regierung bzw im Landtag.

Zitat Sarah Wagenknecht zum Gipfel in Berlin:
„BSW-Chefin Sahra Wagenknecht kritisierte unterdessen die persönliche Teilnahme von Selenskyj an der virtuellen Ukraine-Konferenz in Berlin. Die Bundesregierung sollte „sich nicht so offensichtlich auf Selenskyjs Seite stellen“, forderte Wagenknecht. Sie warf dem Präsidenten Kompromisslosigkeit vor. Dies habe in der ukrainischen Bevölkerung immer weniger Rückhalt. Diese wünsche sich mehrheitlich Frieden.
„Dass Selenskyj beim Video-Gipfel an der Seite von Merz im Kanzleramt sitzt, hat mit Diplomatie wenig zu tun“, meinte Wagenknecht. „Der Kanzler führt damit seine Konferenz ad absurdum, Deutschland fällt als Vermittler endgültig aus.“

Laura Kirchner
Laura Kirchner
2 Monate zuvor
Reply to  Ela Gatto

Auch die Sahra Wagenknecht erhält ständig eine Bühne, die ihr nicht zusteht. Ich habe ihre Zitate vorhin nach Dienstende im HR1 gehört und natürlich wurden ihre zersetzenden Worte wieder so stehen gelassen, nicht kommentiert oder eingeordnet. So gehört sich das nicht und das ist kein guter Journalismus…

6
0
Would love your thoughts, please comment.x