Der Linoleumboden im zwölften Stock des Federal Plaza 26 in Manhattan kennt viele Geschichten. Er hat die schlurfenden Schritte verzweifelter Familien gehört, die bang auf ihre Anhörungen warten. Er trägt die unsichtbaren Spuren von Tränen, die nach vernichtenden Urteilen vergossen wurden. Am Dienstagmorgen des 30. September 2025 aber wurde er Zeuge von etwas, das selbst in der aufgeheizten Atmosphäre von Trumps zweiter Amtszeit die Grenzen des Erträglichen sprengte: Ein türkischer Fotojournalist lag dort, L. Vural Elibol, den Kopf auf dem harten Boden, nachdem maskierte Bundesagenten eine Gruppe von Journalisten attackiert hatten.
Die Aufnahmen, die Fotografin Stephanie Keith in diesem Moment machte, brennen sich ins Gedächtnis ein. Sie zeigen keine ordnungsgemäße Verhaftung, keine kontrollierte Polizeiarbeit. Sie dokumentieren rohe Gewalt in einem öffentlichen Gebäude, ausgeübt von vermummten Agenten gegen Pressevertreter, die nichts anderes taten, als ihre Arbeit zu verrichten – die Arbeit, die in einer Demokratie als vierte Gewalt gilt, als unverzichtbarer Wachhund der Macht.

Dean Moses, ein erfahrener Polizeireporter, hatte schon viele brenzlige Situationen erlebt. Doch was sich abspielte, als er versuchte, eine Festnahme zu dokumentieren, übertraf alles Bisherige. „Ich ging hinter ihnen in den Aufzug, und sie fingen an, mich anzuschreien“, erzählt Moses. Die maskierten ICE-Agenten packten ihn an den Armen, zerrten ihn aus der Kabine. Moses versuchte sich festzuhalten, doch die Übermacht war zu groß. Mit solcher Wucht wurde er herausgeschleudert, dass eine Kettenreaktion folgte. Olga Fedorova, freie Fotografin, stand im Flur und dokumentierte die Szene. Ein Agent stieß sie zur Seite. Sie taumelte rückwärts, verlor das Gleichgewicht. Und dann der Dominoeffekt des Schreckens: Fedorova stürzte, riss dabei Elibol mit sich. Der Videograf der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.
Die lange Warterei auf dem Linoleum
Was folgte, waren Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Augenzeugen berichten, dass Elibol bis zu 40 Minuten am Boden lag, bevor angemessene medizinische Hilfe eintraf. Ein Passant hielt seinen Kopf, eine Krankenschwester, die zufällig anwesend war, übernahm die Erstversorgung. Die Bilder zeigen Elibol später in einer Halskrause, während Sanitäter ihn auf einer Trage aus dem Gebäude rollen. Sein Gesicht: eine Maske aus Schmerz und Verwirrung. Fedorova, die seit Monaten regelmäßig aus dem Immigrationsgericht berichtet, kann die Eskalation nicht fassen. „Wenn sie uns sagen, rauszugehen, eine bestimmte Linie nicht zu überschreiten, folgen wir ihren Anweisungen“, betont sie. „In diesem Fall war für niemanden klar, dass es sich überhaupt um eine Festnahme handelte.“

Tatsächlich bewegten sich die Journalisten in einem Bereich, der der Öffentlichkeit zugänglich ist. Hier treffen täglich Welten aufeinander: Immigranten auf dem Weg zu schicksalsentscheidenden Anhörungen, Agenten, die auf ihre nächste Verhaftung warten, Aktivisten, die gegen die Abschiebemaschinerie protestieren, und Journalisten, die all das dokumentieren. Es ist ein Mikrokosmos der amerikanischen Einwanderungspolitik, ein Brennglas der Spannungen, die das Land zerreißen.
Die offizielle Version des Department of Homeland Security liest sich wie aus einem Paralleluniversum. Assistenz-Sekretärin Tricia McLaughlin behauptet, die Agenten seien von „Aufwieglern und Mitgliedern der Presse umschwärmt“ worden, was die Operation behindert habe. „Die Beamten forderten die Menge von Aufwieglern und Journalisten wiederholt auf, zurückzutreten, sich zu bewegen und den Aufzug zu verlassen“, erklärt McLaughlin. Sie geht noch weiter, beschuldigt „Randalierer und Sanctuary-Politiker“, ein feindseliges Umfeld zu schaffen, das Beamte, Inhaftierte und die Öffentlichkeit gefährde.
Randalierer? Die Videoaufnahmen zeigen Journalisten mit Kameras, keine vermummten Gewalttäter. Aufwiegler? Die einzige Aggression, die dokumentiert ist, ging von den maskierten Bundesagenten aus.
Ein Muster der Eskalation
Der Angriff auf die Journalisten war kein isolierter Vorfall. Nur wenige Tage zuvor hatte ein anderes Video für Entsetzen gesorgt: Ein ICE-Agent schleuderte eine ecuadorianische Frau gegen eine Wand und zu Boden, nachdem ihr Ehemann verhaftet worden war. Die Aufnahmen gingen viral, entfachten eine Debatte über die Methoden der Einwanderungsbehörde unter Trumps zweiter Präsidentschaft.
Lesen Sie bitte auch dazu unseren Artikel: „Vor unser aller Augen“, unter dem Link: https://kaizen-blog.org/vor-unser-aller-augen/
Seit seiner Amtseinführung im Januar 2025 hat Trump sein Versprechen einer noch härteren Gangart in der Einwanderungspolitik wahr gemacht. Die Razzien haben sich intensiviert, die Rhetorik verschärft. Doch was sich am 26 Federal Plaza abspielt, markiert eine neue Qualität der Eskalation. Hier wird nicht nur gegen Einwanderer vorgegangen – hier werden systematisch diejenigen angegriffen, die darüber berichten wollen.
New Yorks Gouverneurin Kathy Hochul fand deutliche Worte: „Dieser Missbrauch von gesetzestreuen Einwanderern und den Reportern, die ihre Geschichten erzählen, muss aufhören. Was zur Hölle machen wir hier?“ Zohran Mamdani, Mitglied der State Assembly und Kandidat für das Bürgermeisteramt, warnte: „Wir können nicht akzeptieren oder normalisieren, was nun zur Routine-Gewalt am 26 Federal Plaza geworden ist. Sie hat keinen Platz in unserer Stadt.“
Die Attacke auf die Journalisten wirft fundamentale Fragen auf. In welchem Amerika leben wir, wenn Bundesagenten vermummt auftreten wie paramilitärische Einheiten? Wenn sie Pressevertreter niederwerfen, die nichts weiter tun, als die Öffentlichkeit zu informieren? Wenn das Dokumentieren staatlichen Handelns mit Krankenhausaufenthalten bestraft wird?
Die Bilder von L. Vural Elibol auf der Trage sind mehr als nur die Dokumentation eines Gewaltexzesses. Sie sind ein Weckruf. Sie zeigen, was passiert, wenn die Exekutive ihre Macht missbraucht und die vierte Gewalt zum Feind erklärt. Sie mahnen uns, dass Pressefreiheit kein Luxus ist, den man sich in ruhigen Zeiten leistet, sondern gerade dann unverzichtbar wird, wenn der Staat seine Muskeln spielen lässt. Für uns alle war es sofort selbstverständlich Vural Elbion und seine Familie zu unterstützen und haben da bereits Dinge und Gelder auf den Weg gebracht. In unserer Dokumentation „Die zerbrochene Stadt: Los Angeles im Juni 2025 – Eine journalistische Aufarbeitung nach wochenlangen Recherchen“, unter dem Link: https://kaizen-blog.org/die-zerbrochene-stadt-los-angeles-im-juni-2025-eine-journalistische-aufarbeitung-nach-wochenlangen-recherchen/ -, hatten wir über Gewalt auch gegen Journalisten ausführlich berichtet.
Der Linoleumboden im zwölften Stock des Federal Plaza hat am Dienstag eine neue Geschichte aufgenommen. Es ist die Geschichte vom Tag, als maskierte Agenten einen Journalisten zu Boden warfen, weil er seine Kamera auf sie richtete. Es ist die Geschichte vom Tag, als Amerika einen weiteren Schritt weg von seinen demokratischen Idealen machte. Und es ist die Geschichte, die uns alle angeht – denn wenn Journalisten für ihre Arbeit mit Gewalt bestraft werden, dann ist die nächste Frage nicht ob, sondern nur wann die Dunkelheit auch den Rest von uns verschlingt.
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