Das große Verschwinden – Wie Russland Sanktionen umgeht und die Statistik gleich mit

VonRainer Hofmann

Dezember 25, 2025

In den russischen Zolldaten für das Jahr 2025 klafft eine Lücke von historischem Ausmaß. Rund 180 Kategorien technisch anspruchsvoller Waren tauchen schlicht nicht mehr auf. Es handelt sich überwiegend um Elektronik und industrielle Ausrüstung, genau jene Güter, die unter EU- und US-Sanktionen fallen. Recherchen ergeben aber, dass diese Lieferungen nicht etwa eingestellt worden. Sie sind unsichtbar gemacht worden. Die Importeure arbeiten weiter, die Nachfrage besteht fort, nur die Einträge in der zentralen Zolldatenbank fehlen. Der Staat löscht die Spur.

Der Zweck liegt auf der Hand. Indem die Angaben nicht mehr erfasst werden, soll der Blick auf den sogenannten grauen Import verstellt werden. Lieferketten für sanktionierte Technik, vor allem für den militärisch-industriellen Komplex, bleiben im Dunkeln. Neue Strafmaßnahmen gegen Zulieferer sollen vermieden werden, indem es offiziell nichts mehr gibt, was man sanktionieren könnte. Die Methode ist grob, aber wirksam: Was nicht registriert ist, existiert statistisch nicht.

Die Auswertung wirkt wie ein nüchternes Lagebild über den tatsächlichen Zustand der Sanktionen. Sie dokumentiert nicht deren Existenz, sondern ihre Umgehung. Wo Raupenbagger, Bearbeitungszentren und Drehmaschinen in dreistelliger Millionenhöhe auftauchen, zeigt sich, dass die Beschränkungen nicht zu einem Abbruch geführt haben, sondern zu einer Neuorganisation der Lieferwege. Es geht nicht um Notlösungen, sondern um gezielte Versorgung. Akkumulatoren, Generatoren und Rechentechnik stehen dabei exemplarisch für jene Güter, die offiziell zivil gelten, in der Praxis jedoch unverzichtbar für militärische Produktion und Einsatzfähigkeit sind. Die Auswahl ist kein Zufall, sondern funktional: Maschinen zum Produzieren, Teile zum Reparieren, Systeme zur Energieversorgung. Zusammen sichern sie den Weiterbetrieb industrieller und militärischer Strukturen trotz formaler Verbote. In Verbindung mit den ausgedünnten Zolldaten wird deutlich, was die Sanktionen tatsächlich bewirken: Sie verschwinden nicht aus der Politik, sondern aus der Statistik. Sichtbar bleibt nur, was nicht mehr vollständig verborgen werden kann. Gerade diese Normalität der Umgehung ist die eigentliche Aussage der Analyse. Sie zeigt, dass Sanktionen zwar beschlossen sind, ihre Durchsetzung jedoch so löchrig geworden ist, dass Umgehung längst Teil des Alltagsgeschäfts ist.

Russland hat Erfahrung darin, öffentlich relevante Informationen zu verbergen. Das Unternehmensregister schränkt seit Jahren den Zugang zu Eigentümerdaten strategisch wichtiger Firmen ein. Das Grundbuch schützt Vermögenswerte von Korruptionsverdächtigen vor Einblicken. Selbst wissenschaftliche Arbeiten sind verschwunden, wenn Plagiatsvorwürfe drohten. Neu ist jedoch die Dimension. Erstmals greift der Staat direkt in eine Datengrundlage ein, die für wirtschaftliche Planung unverzichtbar ist. Die Zollstatistik selbst wird beschädigt. Auffällig ist dabei, wie konsequent der Schritt vollzogen wurde. Früher gab es Umbenennungen und Tarnungen. Aus iranischen Kampfdrohnen wurden auf dem Papier Boote. Solche Manöver waren Ausnahmen. Jetzt wird nichts mehr umdeklariert. Die Waren werden nicht in andere Kategorien verschoben. Sie verschwinden vollständig. Firmen, die zuvor ausschließlich Mikrochips importierten, melden plötzlich gar nichts mehr beim Zoll. Sie tauchen in den Daten nicht auf, obwohl sie nachweislich weiter tätig sind.

Die zweite Auswertung schärft das Bild und macht den Mechanismus hinter den verschwundenen Zolldaten greifbar. Sie zeigt hochspezialisierte Beschaffungsfirmen, deren Importvolumen 2023 teils beträchtlich war und die 2025 keineswegs vom Markt verschwunden sind – wohl aber weitgehend aus der offiziellen Statistik. Nur bei vier Unternehmen tauchen im ersten Quartal 2025 noch messbare Werte auf, sichtbar als schmale orange Balken auf den breiten hellblauen Flächen des Vorjahres. Dieser Bruch ist kein Ausdruck eines wirtschaftlichen Einbruchs, sondern eines statistischen. Die Firmen existieren weiter, sie arbeiten weiter, doch ihre Lieferungen werden nicht mehr vollständig erfasst. Besonders auffällig ist, dass gerade stark spezialisierte Akteure betroffen sind, deren Geschäftsmodell sich nicht ohne Weiteres umstellen lässt. Wo 2023 noch zweistellige Millionenbeträge verbucht wurden, herrscht nun offiziell Leere. Die Auswertung dokumentiert damit keinen Rückzug aus dem Importgeschäft, sondern eine bewusste Ausblendung. Sie zeigt, wie Sanktionen nicht nur umgangen, sondern zugleich unsichtbar gemacht werden: Die Warenströme laufen weiter, während die Zahlen, die ihre Existenz belegen würden, aus dem Blickfeld verschwinden. Daher ist größte Vorsicht geboten, wenn Meldungen die Runde machen, Russland habe massive Beschaffungsprobleme – allzu oft werden statistische Lücken mit realer Knappheit verwechselt und das Verschwinden von Daten mit dem Verschwinden von Waren. Der einzigste Weg das klar aufzuzeigen ist die investigative Recherche.

Ein Blick auf die Zahlen der Steuerbehörden bestätigt das Bild. Es gibt keine Hinweise auf Masseninsolvenzen, keine Stilllegung, keine Einbrüche bei den Umsätzen. Die Unternehmen existieren, handeln, verdienen. Nur der Zoll sieht sie nicht mehr. Und genau das macht den Eingriff so gravierend. Die Statistik zeigt für diese Warengruppen in 2025 durchgehend Null. Monat für Monat. Über alle betroffenen Codes hinweg. Gleichzeitig und flächendeckend. Schon 2024 belief sich der Import sanktionierter Produkte nach Russland auf rund 22 Milliarden Dollar, vor allem aus dem Maschinenbau, der Elektronik und der Metallverarbeitung. Diese Güter sind doppelt nutzbar. In der Praxis landen sie jedoch regelmäßig im Krieg. Lithium-Ionen-Akkus gelten offiziell als zivile Ware, sind aber für Drohnen unverzichtbar. Werkzeugmaschinen und Bearbeitungszentren werden vorrangig von Rüstungsbetrieben nachgefragt. Auch das haben frühere Recherchen in weiteren Bereichen gezeigt.

Im Jahr 2025 veränderte sich die Struktur der offiziellen Importstatistik abrupt. Aus den führenden Positionen verschwanden Computerbaugruppen, Router, integrierte Schaltkreise, Videokameras, Funkbauteile, Frequenzgeneratoren, Radartechnik, Navigationsgeräte, Elektromotoren sowie Anlagen zur Chipfertigung. Auch Bohrmaschinen, Industrieöfen und weiteres schweres Gerät tauchen nicht mehr auf. Insgesamt etwa 180 Positionen, bei denen die Lieferungen laut Statistik auf null gefallen sind. In jedem einzelnen Fall handelt es sich um Technik, deren Export nach Russland durch westliche Entscheidungen eingeschränkt ist. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 wurden dennoch Waren im Wert von mehr als 5,7 Milliarden Dollar importiert, die unter diese Beschränkungen fallen. Die Analyse der monatlichen Zollberichte zeigt, dass die entsprechenden Codes Ende 2024 aus dem sogenannten Spiegel verschwanden. Drei Merkmale stechen hervor: der zeitgleiche Wegfall aller Positionen, das Weiterbestehen hoch spezialisierter Importfirmen und die vollständige Abwesenheit dieser Waren in der Statistik des Folgejahres. Zusammengenommen deutet alles auf eine gezielte, großflächige Beschädigung des Registers hin. Technisch spricht vieles dafür, dass bei der Abfertigung dieser Güter die Informationen schlicht nicht mehr auf den zentralen Servern gespeichert werden. Andere Waren erscheinen weiterhin ordnungsgemäß in der Datenbank. Es ist also kein Systemversagen, sondern eine selektive Entscheidung. Die Verschwörung ist banal, aber effektiv. Die Folgen reichen weit über die Sanktionspolitik hinaus. Wenn diese Datenbasis unbrauchbar wird, verliert die staatliche Planung ihre Grundlage. Prognosen zur industriellen Entwicklung werden zur Ratespielerei. Rosstat wird weiter Zahlen liefern müssen, die niemand mehr ernsthaft prüfen kann. Forschungsinstitute, die sich mit Wirtschaft und Produktion befassen, arbeiten im Blindflug. Und in den Ministerien fehlen verlässliche Informationen für Entscheidungen, die reale Auswirkungen haben.

Der Versuch, Sanktionen zu umgehen, hat damit einen hohen Preis. Er untergräbt die Fähigkeit des Staates, sich selbst zu verstehen. Kurzfristig mag die Unsichtbarkeit nützen. Langfristig beschädigt sie Steuerung, Analyse und Glaubwürdigkeit. Was hier verschwindet, sind nicht nur Datensätze. Es ist der Anspruch, die eigene Wirtschaft noch rational erfassen zu können.

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