Es begann, wie so viele Wochenenden im Süden Amerikas beginnen – mit Flutlicht, Musik und Heimkehr. Homecoming: das Ritual der Rückkehr, der Stolz auf die Schule, der Versuch, eine zerrissene Gemeinschaft wenigstens für einen Abend zusammenzuhalten. In Mississippi jedoch verwandelte sich dieses Wochenende in ein Symbol dessen, was von der amerikanischen Gesellschaft übrig bleibt, wenn Waffen, Wut und sozialer Zerfall zusammenfinden. Wir berichteten bereits darüber mit dem Titel „Die Horrornacht von Mississippi“unter dem Link: https://kaizen-blog.org/die-horrornacht-von-mississippi/
Drei Städte, drei Tatorte, 9 Tote, ein Bundesstaat im Schock: In Leland, einem kleinen Ort mit kaum 3.600 Einwohnern, wurden am Freitagabend sechs Menschen erschossen, mehr als ein Dutzend verletzt. Wenige Stunden später fielen in Heidelberg Schüsse auf dem Gelände der High School – zwei Tote, darunter eine schwangere Frau. Am Samstag dann: eine Schießerei auf dem Campus der Alcorn State University in Lorman mit einem Toten und zwei Verletzten, und kurz darauf wurde in Jackson ein Kind in der Nähe des Football-Stadions der Jackson State University angeschossen. Vier Tatorte in 36 Stunden, alle verbunden durch denselben Anlass: Homecoming.
Vier Festnahmen und Anklagen wurden bestätigt
Die offizielle Chronologie liest sich wie eine Fallstudie über das neue Amerika. In Leland, wo Schüler und Familien nach dem Spiel zusammenkamen, brach das Feuer mitten in der Innenstadt los. Nach Angaben des FBI waren mindestens vier der Opfer sofort tot; weitere erlagen später ihren Verletzungen. Die Bundespolizei erhob Anklage wegen Kapitalmordes gegen Morgan Lattimore (25), Teviyon L. Powell (29) und William Bryant (29), während Latoya A. Powell (44) wegen versuchten Mordes angeklagt wurde. Ob die Beschuldigten anwaltlich vertreten sind, ist laut FBI noch unklar; die Staatsanwaltschaft in Washington County reagierte nicht auf Anfragen. Ein Sprecher des FBI in Jackson erklärte, die Tat sei offenbar „durch eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen ausgelöst“ worden – eine schlichte Formulierung für ein Ereignis, das die Stadt in Fassungslosigkeit stürzte. Weitere Festnahmen stünden bevor, hieß es. Am Tag nach dem Massaker lagen noch immer verlassene Schuhe auf der Straße, Blutspuren zogen sich über den Asphalt, und die Downtown von Leland wirkte wie eingefroren. In einem Land, in dem Waffenbesitz als Freiheitsrecht gilt, wird der Boden immer öfter zur Bühne privater Kriege. Bürgermeister John Lee sprach von einem „großen Verlust“ und bat um Gebete – doch das klingt, als wäre Gebet längst Ersatz für Prävention geworden.
Die Schüsse von Leland waren das tödlichste Ereignis eines Wochenendes, das Mississippi in kollektive Trauer stürzte. In Heidelberg, rund 135 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Jackson, wurden am selben Abend zwei Menschen auf dem Gelände einer High School erschossen – darunter eine schwangere Frau. Der festgenommene 18-jährige Tylar Goodloe wurde wegen zweifachen Mordes und illegalen Waffenbesitzes auf einem Schulgelände angeklagt.

Nur Stunden später meldete die Mississippi Bureau of Investigation eine weitere Schießerei – diesmal auf dem Campus der Alcorn State University in Lorman. Drei Menschen wurden getroffen, einer von ihnen starb. Die Tat ereignete sich unweit des Gebäudes für Industrietechnik, kurz nachdem über 7.000 Zuschauer das Homecoming-Spiel gegen Lincoln University gesehen hatten. In Jackson schließlich, vor dem Stadion der Jackson State University, wurde ein Kind angeschossen – mitten im Tailgating-Bereich, zwischen Zelten, Musik und Familien. Das Opfer wurde ins Krankenhaus gebracht, der Zustand ist unbekannt.
Augenzeugin Camish Hopkins schilderte die Szenen in Leland: „Überall Menschen am Boden, Blut, Schreie. Es war das Schlimmste, was ich je gesehen habe.“ Vier Menschen seien noch am Tatort tot gewesen, andere ringten um ihr Leben. „Ich habe noch nie so viele Körper gesehen, die sich nicht mehr bewegten.“
Nach Angaben der Northeastern University Mass Killing Database handelt es sich bei der Schießerei in Leland um die 14. Massenerschießung des Jahres 2025 in den Vereinigten Staaten – definiert als Tat, bei der vier oder mehr Menschen innerhalb von 24 Stunden vorsätzlich getötet werden. Eine Statistik, die kaum mehr Entsetzen auslöst, so vertraut ist sie geworden. Während Ermittler nach weiteren Verdächtigen suchen, kursieren in den Städten Theorien, Spekulationen, Angst. Viele fragen sich, ob das Homecoming selbst – einst Sinnbild von Rückkehr, Stolz und Gemeinschaft – zu einer Bühne für Rivalität, Frust und gewaltsame Selbstbehauptung geworden ist.
Mississippi ist arm, stolz, religiös – und bewaffnet. Der Bundesstaat, der sich gern als „Herz des Südens“ bezeichnet, hat eine der höchsten Waffendichten der USA und eine der niedrigsten Armutsgrenzen. Hier verschmelzen Patriotismus und Perspektivlosigkeit zu einem toxischen Gemisch. Wer die Morde von Leland, Heidelberg oder Lorman verstehen will, muss sie als Symptome sehen, nicht als Zufälle. Sie sind Ausdruck eines Systems, in dem Waffen schneller zu bekommen sind als psychologische Hilfe, und in dem der Staat die Verantwortung längst an das Schicksal ausgelagert hat.
In den Hallen der Schulen, auf den Tribünen der Stadien, in den Parkplätzen nach dem Spiel – dort, wo eigentlich Gemeinschaft gefeiert werden sollte, wird sichtbar, wie tief die amerikanische Gesellschaft gespalten ist. „Es war die schlimmste Szene, die ich je gesehen habe“, sagte Camish Hopkins. „Und es war das Normalste für alle, die da waren – niemand war wirklich überrascht.“ Das FBI spricht von weiteren möglichen Festnahmen. Doch unabhängig davon, wie viele Täter man noch identifiziert: Die größere Frage bleibt, wie viele Ursachen man ignoriert. Die Schüsse von Leland sind kein Einzelfall, sondern ein Kulturmuster. Homecoming, das einst die Rückkehr zu Stolz und Zusammenhalt symbolisierte, wird in Mississippi zum Symbol für den Verlust beider. Zwischen den Glitzerpompons der Cheerleader und den Absperrbändern der Polizei verschwimmen Gemeinschaft und Gewalt, während sich Politiker in Gebetsrhetorik flüchten.“
Mississippi ist nach diesen Tagen kein anderer Ort als zuvor. Aber er ist ehrlicher geworden in seiner Zerrissenheit. Was sich hier zeigt, ist kein „Verlust der Kontrolle“, wie es in Nachrichtensendungen heißt, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger politischer Gleichgültigkeit gegenüber einer Jugend ohne Zukunft, einer Kultur ohne Halt und einem Land, das seinen Schmerz mit Schusswaffen ausdrückt. Am Ende bleiben drei Tatorte, ein Bundesstaat im Ausnahmezustand – und eine unbeantwortete Frage: Wie viele Schüsse braucht es noch, bis Amerika begreift, dass es nicht nur an zu vielen Waffen leidet, sondern auch an zu wenig Menschlichkeit?
Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und auch Deine Unterstützung.
Unterstützen bitte auch Sie unseren journalistischen Kampf gegen Rechtspopulismus und Menschenrechtsverstöße. Wir möchten uns nicht über eine Bezahlschranke finanzieren, damit jeder unsere Recherchen lesen kann – unabhängig von Einkommen oder Herkunft.