Amerikas 1933 – Die Abschaffung der Republik

VonRainer Hofmann

Juli 2, 2025

Im März 1933 stimmte der Deutsche Reichstag unter dem Druck der Straße einem Gesetz zu, das die Welt bis heute erschauern lässt: dem sogenannten Ermächtigungsgesetz. Es entzog dem Parlament das Recht auf Gesetzgebung und übertrug es der Exekutive – Adolf Hitler konnte fortan regieren, ohne Kontrolle, ohne Opposition, ohne Rechtsstaat. Was folgte, war nicht etwa ein langsamer Verfall, sondern ein Sturz ins Bodenlose: Binnen Monaten war Deutschland ein Einparteienstaat, das Recht ein Instrument der Macht, die Justiz kontrolliert. Was damals geschah, war spektakulär – und zugleich erschreckend banal. Ein Gesetz, ein Federstrich, ein Applaus – und die Demokratie war Geschichte. Heute, fast hundert Jahre später, wiederholt sich dieser Vorgang in den Vereinigten Staaten von Amerika – nicht mit Feuer, sondern mit Formularen. Nicht durch Schüsse, sondern durch Urteile. Der Oberste Gerichtshof hat am Montag beschlossen, dass Einzelrichter an Bezirksgerichten künftig keine landesweiten Verfügungen mehr gegen Bundesgesetze oder präsidentielle Erlasse erlassen dürfen. Ein kleiner Satz im Urteil, und doch ein gewaltiger Einschnitt: Denn was bedeutet es, wenn ein Gericht zwar noch sagen darf, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist – aber seine Entscheidung nicht mehr über den Ort hinauswirkt, an dem sie gefällt wurde?

Es begann mit einem einzigen Urteil, das nicht fiel – und mit einer Mehrheit, die nicht mehr bremst, sondern beschleunigt. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten hat am 1. Juli 2025 eine Entscheidung getroffen, die im Nachhinein als das juristische Äquivalent zum Ermächtigungsgesetz von 1933 gelten könnte. Fortan ist es Bundesrichtern untersagt, landesweite einstweilige Verfügungen gegen Gesetze oder Erlasse der Bundesregierung zu verhängen. Kein einzelner Richter, kein Bezirksgericht, kein Berufungsgericht darf mehr anordnen, dass ein Gesetz der Regierung für die gesamte Nation ausgesetzt wird – selbst wenn es gegen die Verfassung verstößt. Mit anderen Worten: Wer gegen Trump klagt, darf zwar noch gewinnen – aber nicht mehr effektiv. Das Recht wird lokalisiert, fragmentiert, entmachtet. Und der Supreme Court macht dabei nicht etwa mit – er treibt es voran. Die Maßnahme trifft das Herz der Gewaltenteilung. Denn einstweilige Verfügungen – sogenannte nationwide injunctions – waren ein zentraler Bestandteil des verfassungsrechtlichen Schutzmechanismus in den USA. Sie erlaubten es Richtern, Gesetze temporär auszusetzen, wenn schwere Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit bestanden. So konnte Schaden begrenzt und Grundrechte gewahrt werden, bis eine endgültige Entscheidung vorlag. Mit dem neuen Grundsatzurteil fällt diese Schutzfunktion weg. Was bleibt, ist eine Justiz mit angezogener Handbremse – und ein Präsident, der daraus Kapital schlägt. Bereits wenige Stunden nach dem Urteil postete Donald Trump auf Truth Social: „No judge can stop us now. Beautiful.“ Es ist ein Satz wie aus einem dystopischen Drehbuch. Und er fiel nicht in einem Roman, sondern mitten in Washington. Die Grenze ist überschritten. Und das bewusst.

Gleichzeitig drückt der Kongress das sogenannte „One Big Beautiful Bill“ durch – ein 887 Seiten starkes Mammutgesetz mit Steuersenkungen für Reiche, Milliarden für Militär und Abschiebungen, und drastischen Kürzungen bei Gesundheitsversorgung und Sozialprogrammen. 11,8 Millionen Menschen könnten ihren Krankenversicherungsschutz verlieren, das Defizit steigt um 3,3 Billionen Dollar, und doch jubelt die republikanische Mehrheit. Denn mit der Ausschaltung landesweiter Verfügungen kann das Gesetz selbst dann vollzogen werden, wenn es in Teilen verfassungswidrig ist. Ein Richter in Kalifornien mag urteilen, dass die Deportationsmaßnahmen illegal sind – aber das Urteil gilt dann nur noch für Kalifornien. Ein Bundesgericht in New York mag die Steuererleichterungen für verfassungswidrig halten – doch die Mittelschicht in Texas verliert trotzdem ihre Absicherung. Es ist die juristische Zersplitterung der Republik. Was wir erleben, ist keine bloße Gesetzesreform – es ist die schleichende Entmachtung demokratischer Gegenmacht. Wie im März 1933 in Deutschland, als das Ermächtigungsgesetz dem Reichskanzler erlaubte, ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren, so schafft auch Amerikas Regierung gerade die institutionellen Fesseln ab, die sie einst zähmten. Bis September 1933 war Deutschland ein Einparteienstaat. Und während es heute (noch) mehrere Parteien gibt, ist die Logik dieselbe: Macht konzentrieren, Widerspruch verhindern, Kontrolle beseitigen. Die Gewaltenteilung – einst Grundpfeiler der US-Verfassung – wird zur Kulisse. Zur Staffage in einem politischen Theater, das keine Bremser mehr duldet. Die Republikanische Partei applaudiert. Der Supreme Court sekundiert. Und die Demokratie, wie wir sie kannten, wird zur Erinnerung.

Und während die juristischen Fesseln fallen, werden zugleich neue Mauern errichtet – wortwörtlich. Mitten in den Sümpfen Floridas entsteht das Lager „Alligator Alcatraz“, eine Hochsicherheitsanlage zur Internierung und Abschiebung von Migrant:innen, errichtet unter dem Vorwand der Effizienz, gefüllt mit Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, zu hoffen. Es ist mehr als ein Gefängnis. Es ist das architektonische Bekenntnis eines Staates, der nicht mehr integrieren, sondern aussondern will. ICE – die Migrationsbehörde, die Kritiker längst mit historischen Geheimpolizeien vergleichen – wird zur Exekutive einer Ordnung, die sich nicht mehr rechtfertigen muss. Wer abgeschoben wird, bekommt kein Gerichtsurteil mehr, sondern ein Ticket. Und wer klagt, bekommt kein nationales Urteil mehr, sondern die kalte Schulter eines entkernten Rechtssystems. Die Vereinigten Staaten des Jahres 2025 bauen keine Zukunft – sie errichten Erinnerungstäler an einen autoritären Albtraum, den die Welt nie wieder sehen wollte.


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Ela Gatto
Ela Gatto
4 Monate zuvor

1933 in Reinform
Die Demokraten haben verschlafen sich zu wehren. Politiker, wie die Bevölkerung.
Die Proteste waren gut, aber haben rein gar nichts bewirkt.

Der Umbau der USA in eine Diktatur rollt unverändert mächtig über das Land.
Stoppen wird es keiner mehr können.

Wir wissen,wie es in Deutschland lief.
Kritiker wurden mundtot gemacht oder boch schlimmeres.
Sich zu widersetzen bedeutet Gefängnis oder schlimmeres.
Also wird geschwiegen.
Wie rund 50% der US-Amerikaner schweigen.
Und mit jedem Tag schwindet die Möglichkeit sich zu wehren.

Wer jetzt noch glaubt, dass es Midterms geben wird ist mächtig naiv.

Fragt sich nur, ob die demokratische Welt erkennt, was da passiert.
Schweigen auch sie oder werden sie endlich was sagen.

Oder wird auch gerade unsere Demokratie zugunsten der „Besänftigungspolitik“ verramscht?

Claudia Nissle
Claudia Nissle
4 Monate zuvor

Es ist unfassbar was da in Amerika passiert womöglich macht sich der verurteilte Sexualstraftäter noch zum Präsidenten auf Lebenszeit und seine Vasallen beim Suprem Court machen das möglich- aller Anstand ist verloren in diesem Land

Daniel
Daniel
4 Monate zuvor

Hinzu kommt, dass diese wie andere rechtsextremistische, autoritär-ultranationalistische „Politik“ implizit von Beginn an gewaltaffin, dann gewaltandrohend, schließlich gewaltausübend verläuft.Trump droht jedem, der in seinem MAGA-Sektenkult Widerspruch oder Gegenstimme bei Kongressabstimmingen auch nur erwägt, mit politischer Vernichtung … per Primary-Gegenkandidat. Zeitgleich doxxen MAGA -Onlinekrieger Adressen, Photos von Richtern, Staatsanwälten, kritischen Reporten im Netz, bedrohen die letzten anständigen US-Konservativen wie Liz Cheney oder Adam Kinzinger mit Hinrichtung oder Liquidation selbst der kleinen Kinder von Kinzinger.

So sieht der MAGA-/AfD-/RN-/Putin-Lukaschenko-Faschismus der 20er Jahre im 21. Jh. aus.

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