Amerika am Rand – Wie die Proteste gegen Trumps Deportationswelle das Land auf den 14. Juni zutreiben lassen

VonRainer Hofmann

Juni 11, 2025
New York City (Photo DAVID DEE DELGADO)

Es beginnt mit einem Ruf, tausendfach gerufen, tausendfach geschrien: No hate, no fear – immigrants are welcome here. Und es endet – vorerst – mit einem Polizeigriff, mit Reizgas, mit Handschellen aus Plastik. Was sich in New York, Los Angeles, Chicago, Atlanta, Denver, Portland, Philadelphia und Sioux City abspielt, ist kein Randphänomen mehr. Es ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die aufreißt. Eine Wunde, die offenliegt. Und ein Land, das taumelnd auf ein Datum zusteuert, das längst Symbolcharakter trägt: der 14. Juni.

New York City

An jenem Samstag, Trumps 79. Geburtstag, soll in Washington eine Militärparade stattfinden – Panzer, Hymnen, Helikopter. Der Präsident ruft, die Truppen marschieren, und im Schatten der Inszenierung wächst die Angst. Denn während sich das Weiße Haus auf Hochglanz poliert, flackert in den Städten der Widerstand. Laut. Hartnäckig. Und immer verzweifelter.

In New York war es der Foley Square, der sich als erstes füllte – ein Ort, der Gericht und Gerechtigkeit atmen soll. Doch hier, wo einst Mahnwachen stattfanden, zogen am Dienstag Tausende durch die Straßen, viele mit Schildern: ICE out of NYC, Fuck fascism, Stop the deportations now. Familien, Arbeiterinnen, Jugendliche, Nachkommen von Immigranten. Menschen, deren bloße Anwesenheit zur Provokation wird in einem Staat, der seine Türen zuschlägt. Eine junge Frau mit mexikanischen Wurzeln spricht für viele: Ich bin hier für meine Mutter. Sie kann nicht hier sein, aber ich kann. Ihre Stimme zittert nicht. Aber sie weiß, dass es gefährlich ist, überhaupt zu sprechen. Über 20 Festnahmen allein in Lower Manhattan. Und es war eine friedliche Demo.

Cicago

Los Angeles: Wo der Staat die Helme schließt

In Los Angeles ist die Lage längst anders. Brennende Autos, Tränengas, Ausgangssperren. 197 Festnahmen allein am Dienstag. Der Präsident hat nicht nur die Nationalgarde geschickt, sondern auch 700 aktive Marinesoldaten – eine Maßnahme, die nicht einmal nach dem Sturm auf das Kapitol 2021 gewagt wurde. Die Behörden sprechen von Ordnung. Die Demonstrierenden von Ausnahmezustand. Gouverneur Gavin Newsom klagt gegen den Einsatz – doch bis zur Gerichtsanhörung marschieren die Truppen weiter. Und Trump? Der nennt die Protestierenden Tiere und fremde Feinde. In einer Rede, die eigentlich der 250-jährigen Geschichte der US-Armee gewidmet sein sollte.

Atlanta

Von Denver bis Philadelphia: Ein Land im Aufbruch – oder im freien Fall

In Denver versammelten sich Hunderte auf dem Civic Center Park. In Philadelphia blockierten Demonstrierende die Straße vor dem ICE-Field-Office in Center City. In Sioux City – einem Ort, der sonst selten Teil nationaler Protestlandschaften ist – versammelten sich Aktivistinnen und Aktivisten spontan vor einer städtischen Haftanstalt. In Portland wurde das ICE-Gebäude für mehrere Stunden vollständig abgeriegelt, in Seattle kam es zu Sitzblockaden auf der Interstate 5. Auch in Brookhaven bei Atlanta und in Vororten von Houston und Phoenix gingen Menschen auf die Straße.

Denver

Die Karte Amerikas färbt sich nicht rot oder blau – sondern wütend. Menschen, die Angst haben. Menschen, die ihre Nachbarn verteidigen. Menschen, die nicht bereit sind zu schweigen, wenn Deportationen ganze Familien zerreißen. Trump lässt keinen Zweifel daran, dass der 14. Juni mehr sein soll als ein symbolisches Datum. Er will Stärke zeigen. Unbeugsamkeit. Kontrolle. Wer an diesem Tag demonstriere, so sagte er, werde auf sehr große Gewalt treffen. Die Nationalgarde steht bereit. Der Aufmarsch ist mehr als eine Parade – er ist eine Machtdemonstration.

Bürgermeister wie Eric Adams in New York halten sich offiziell noch zurück. Doch ihre Aussagen zeigen: Der Ausnahmezustand ist auch dort nur eine Frage der Zeit. Wir sind vorbereitet, jede Form von Gewalt zu unterbinden, sagte Adams – und ließ offen, wie weit er selbst dafür gehen würde. Was sich in diesen Tagen entfaltet, ist kein Zufall. Es ist die systematische Verschiebung demokratischer Linien – die Militarisierung zivilgesellschaftlicher Konflikte, das Zurückdrängen des Diskurses zugunsten der Drohung. Die Proteste sind mehr als Wut über Razzien. Sie sind eine Verteidigung des Grundgedankens, dass Menschenwürde nicht an der Grenze endet. Und dass Widerstand nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht ist.

Boston

Der 14. Juni – Schicksalstag einer Nation

Ob dieser Samstag zur Show oder zur Spaltung wird, ist offen. Aber klar ist: Die USA stehen vor einem Moment, der alles entscheiden könnte – das Narrativ, die Erinnerung, vielleicht die Richtung ihrer Zukunft. Der Präsident marschiert. Doch das Volk steht auf.

Kalifornien mag das erste Ziel sein, sagte Gavin Newsom, aber es wird nicht das letzte sein. Er hat recht.

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