„Sie wollten nur essen“ – Der tödlichste Tag für Hungernde in Gaza seit Kriegsbeginn – Das geht über jegliche Grenze menschlicher Ethik

VonRainer Hofmann

Juli 21, 2025

Es war ein Sonntag, der wie so viele begann: mit Not, mit Hoffnung, mit dem instinktiven Drang zu überleben. In den Straßen von Nord-Gaza, zwischen Ruinen, Staub und ausgebrannten Fahrzeugen, hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Dutzende, Hunderte Palästinenser drängten sich um einen Konvoi der Vereinten Nationen – 25 Lastwagen, die das Wertvollste brachten, was es in dieser belagerten Welt noch gibt: Brot, Reis, Linsen, Wasser. Die Menschen hatten nichts. Und sie wollten nichts als ein paar Kilo Leben. Dann fielen Schüsse. Die UN-Welternährungsorganisation (WFP) erhob am Montag schwere Vorwürfe: Israelische Panzer, Scharfschützen und weitere bewaffnete Einheiten sollen das Feuer auf die wartende Menge eröffnet haben. Die Rede ist von „zahlreichen Toten“, von „gnadenloser Gewalt gegen Hungernde“, von einem Bruch aller Zusagen, die humanitäre Korridore schützen sollten. Mindestens 80 Tote meldete das Gesundheitsministerium in Gaza. Es war, so heißt es von mehreren Stellen übereinstimmend, einer der tödlichsten Tage für Zivilisten auf der Suche nach Nahrung seit Beginn des Krieges vor über 21 Monaten.

Ein mit uns befreundeter Fotograf der unter anderem auch für Gulf News tätig ist zählte allein im Shifa-Krankenhaus 31 Leichen. Weitere 20 lagen im Hof der Sheikh-Radwan-Klinik. Darunter Kinder. Darunter Männer, die zuvor in Schlangen standen. Darunter Frauen mit leeren Taschen. „Diese Menschen wollten einfach nur etwas zu essen, um sich und ihre Familien vor dem Verhungern zu retten“, erklärte das World Food Programme. Die Konvois seien auf ausdrückliche Zusicherung Israels unterwegs gewesen – zugesagt worden sei, dass sich keine bewaffneten Kräfte entlang der Route aufhalten oder eingreifen würden. Doch der Sonntag zeichnete ein anderes Bild. Die WFP spricht von einem „massiven Vertrauensbruch“. Und fordert: „Schüsse in der Nähe humanitärer Missionen, Konvois und Essensausgaben müssen sofort aufhören.“ Israel hingegen äußerte sich nur vage. Armeesprecher Nadav Shoshani schrieb auf X, Soldaten hätten den Befehl erhalten: „Nicht schießen.“ Ein beigefügtes Video zeigt Soldaten neben einem LKW, einer schreit mehrfach: „Nicht schießen!“ Ob das Video authentisch ist und mit dem Vorfall in Verbindung steht, blieb offen. Internationale Medien erhalten nach wie vor keinen Zugang zum Gazastreifen – unabhängige Verifizierungen sind kaum möglich.

Mitteilung des World Food Programme (WFP) zum Vorfall am 20. Juli 2025 in Gaza:

Doch das Muster wiederholt sich. Bereits in den letzten Tagen waren mehrfach Palästinenser getötet worden, die sich entlang neuer Verteilzentren der sogenannten Gaza Humanitarian Foundation bewegten – einem von den USA und Israel unterstützten Hilfssystem, das zunehmend klassische UN-Organisationen verdrängt. Die Gewalt nimmt zu, die Koordination bricht ein. Wer Essen sucht, riskiert sein Leben. Der Krieg, der am 7. Oktober 2023 durch den Terrorangriff der Hamas begann, hat sich längst in einen offenen Feldzug verwandelt. Über 59.000 Palästinenser sind laut Gesundheitsministerium in Gaza bisher getötet worden, über die Hälfte davon Frauen und Kinder. Die Zählungen stammen aus Behörden der Hamas, doch sie gelten in Ermangelung alternativer Strukturen auch für die UNO als verlässliche Quelle. Israel differenziert nicht öffentlich zwischen Kämpfern und Zivilisten, weist jedoch regelmäßig auf die Nutzung ziviler Infrastruktur durch die Hamas hin. So auch am Montag, nachdem bei einem Luftschlag in der Muwasi-Zone bei Khan Younis erneut Zivilisten starben – ein Zeltlager wurde getroffen, darunter eine Familie mit zwei Kindern. Gleichzeitig weitet das israelische Militär seine Evakuierungsanordnungen aus – auch in Regionen, die bislang vergleichsweise verschont geblieben waren. Ein neuer Schauplatz scheint sich zu formieren, Palästinenser werden auf immer engere Flächen zusammengedrängt, während die Hilfslieferungen nicht mit dem Bedarf Schritt halten – und nun selbst zum Todesrisiko werden.

Zur Erinnerung: Nach 498 langen und grausamen Tagen in der Gefangenschaft von Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad sind Sagui Dekel Chen, Iair Horn und Alexander Troufanov endlich wieder in Israel
Zur Erinnerung: Ein Polizeikonvoi der die Leichen vieler Entführten Menschen vom 7. Oktober 2023 nach Israel überführte, erwiesen die Beamten ihnen die letzte Ehre – ein Moment der Stille inmitten all des fürchterlichen Grauens.

Auch am Montagmorgen fielen erneut Schüsse auf Wartende, diesmal im Bereich des Netzarim-Korridors im Zentrum Gazas. Laut dem Direktor des Shifa-Krankenhauses, Dr. Mohamed Abu Selmiyah, wurden mindestens zwei Menschen erschossen. Erneut handelte es sich um Zivilisten, erneut warteten sie auf Nahrung. Die israelische Armee kommentierte die Vorfälle nicht. Parallel setzt Israel seine Angriffe außerhalb Gazas fort. Am Montagmorgen wurde der Hafen von Hodeidah im Westen des Jemen angegriffen – nach Angaben des israelischen Verteidigungsministers Israel Katz ein Vergeltungsschlag gegen die iranisch unterstützten Houthi-Rebellen, die weiterhin Raketen in Richtung Israel abfeuern. Es ist nicht der erste Angriff auf den Hafen – laut Israel diene er den Houthis als Nachschubpunkt für Waffenlieferungen aus dem Iran. Während die Diplomatie stagniert – zuletzt waren wieder Delegationen für Waffenstillstandsverhandlungen in Katar unterwegs –, setzt sich der Kreislauf der Gewalt ungebremst fort. Präsident Trump und Ministerpräsident Netanjahu sollen sich demnächst persönlich treffen. Was dabei herauskommt, ist offen. Die Verzweiflung der Menschen in Gaza hingegen ist greifbar. Der elfjährige Abdullah al-Rantisi, dessen lebloser Körper am Montag von Angehörigen identifiziert wurde, hatte keine Uniform getragen, keine Rakete abgefeuert, keine Drohung ausgesprochen. Er war ein Kind. Er starb in Deir al-Balah durch einen Bombenangriff. Seine Familie trug ihn schweigend, in einem weißen Tuch, durch die Trümmer ihrer Welt. Was bleibt, ist ein Satz, den eine Mutter am Rande des Krankenhauses sagte, leise, ungläubig, wütend: „Sie haben auf uns geschossen, weil wir essen wollten.“

Die Gewalt riss nicht ab. Mindestens 27 weitere Menschen wurden am Montag durch israelische Angriffe in Gaza getötet, wie palästinensische Gesundheitsstellen berichten. Darunter erneut Zivilistinnen und Zivilisten, die in der Nähe von GHF-Verteilzentren warteten. Während die Fronten verhärten, regt sich weltweit Widerstand gegen das, was viele nur noch als systematische Vernichtung der palästinensischen Zivilbevölkerung bezeichnen. In zahlreichen Ländern der muslimischen Welt – darunter Tunesien, Irak, die Türkei, Marokko, der Libanon sowie im besetzten Westjordanland – gingen erneut Tausende auf die Straße. In Ramallah brannten israelische Flaggen, in Tunis riefen Demonstrierende nach einem vollständigen Boykott aller israelischen Produkte. Die zentrale Forderung überall: Ein Ende der Belagerung von Gaza. Laut aktuellen Angaben hat Israels Krieg gegen den Gazastreifen seit Oktober 2023 mindestens 59.029 Menschen das Leben gekostet, weitere 142.135 wurden verletzt. Die Zahlen steigen mit jedem Tag. Es sind Ziffern eines Krieges, der längst jedes Maß verloren hat – und dessen Opfer immer seltener Namen tragen dürfen. Und so bleibt auch nach dem zweiten tödlichen Tag in Folge ein furchtbares Fazit: Wer in Gaza überleben will, muss nicht nur den Hunger besiegen. Sondern auch die, die das Essen mit Kugeln bewachen.

Investigativer Journalismus braucht Mut, Haltung und Mittel.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
2 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Frank Steinmeier
Frank Steinmeier
2 Monate zuvor

Endlich ein Artikel, der ohne Polemik auskommt, sachlich und differenziert berichtet und dem Leser dennoch genug Raum lässt, sich eine eigene fundierte Meinung zu bilden. Danke für diese ausgewogene und zugleich eindringliche Darstellung.

Last edited 2 Monate zuvor by Frank Steinmeier
2
0
Would love your thoughts, please comment.x