Das zerbrochene Versprechen der Vernetzung

VonRainer Hofmann

Juni 25, 2025

Als das Internet zum ersten Mal die Weltbühne betrat, wurde es als Werkzeug der Befreiung gefeiert. Man versprach sich nicht weniger als die Demokratisierung des Wissens, eine Stimme für die Stimmlosen, den Aufbau eines globalen Dorfs aufgeklärter Bürgerinnen und Bürger. In gewisser Weise ist all das eingetreten. Wir tragen heute Taschencomputer mit uns herum, die uns Zugang zu medizinischer Forschung, antiker Literatur und den gesammelten Geschichten der Menschheit bieten. Und doch ist aus dem Versprechen von Tiefe ein Abgrund geworden: Das Netz gleicht heute einem Schlachtfeld der Aufmerksamkeiten, dominiert von Algorithmen, die Wut über Einsicht stellen, und einer fragmentierten Spiegelung unseres Selbst. Der Widerspruch ist unübersehbar: Noch nie waren wir so vernetzt – und doch so allein. Noch nie so informiert – und doch so orientierungslos. Noch nie so unterhalten – und doch so leer. Studien zeigen: Mit der Verbreitung des Smartphones stiegen auch Angststörungen, Depressionen und Einsamkeit drastisch an. Geburten- und Heiratsraten sinken. Politische Debatten verkommen zu tribalistischen Spektakeln, in denen jede Nuance vom nächsten viralen Aufreger verschluckt wird. Selbst unser Verhältnis zur Wahrheit hat gelitten – wie soll man zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden, wenn jede Schlagzeile, jeder Klick, die Sensation belohnt?

Wir haben unsere Aufmerksamkeit den Push-Benachrichtigungen überlassen, unsere Erinnerungen an Suchmaschinen ausgelagert, unsere sozialen Kompetenzen durch Emojis ersetzt. Das Resultat? Eine Kultur der Oberflächlichkeit, in der tiefes Denken zur Ausnahme und echte Verbindung zur Rarität geworden ist. Selbst unsere Lebenssinnsuche wirkt heute verwässert – wie oft scrollen wir, statt zu handeln, zu gestalten, zu leben? Unsere Beziehungen sind zunehmend entkoppelt von Nähe, unsere Abende strukturiert durch Streams statt durch Gespräche, unser Alltag von Kalender-Apps statt von innerer Orientierung bestimmt. Das Private wurde öffentlich, das Öffentliche zur Bühne, auf der Selbstdarstellung oft wichtiger ist als Erkenntnis oder Empathie. Wir kommunizieren mehr denn je – und sagen uns doch immer weniger. Selbst unsere Bildung leidet unter dieser Fragmentierung. Wir konsumieren TED Talks und Onlinekurse im Sekundentakt – doch zurück bleibt das Gefühl, sich in einem endlosen Strom von Informationen zu verlieren. Der Zugriff auf Wissen war nie größer, und dennoch fehlt oft die Verankerung, der Fokus, die Tiefe. Wir leben in einer Welt, in der alles verfügbar ist – aber kaum noch etwas Bedeutung hat.

Und dennoch: Es geht nicht darum, Technologie zu verteufeln. Das Netz verbindet uns mit geliebten Menschen, gibt Dissidenten eine Stimme, treibt Innovationen voran. Aber wir haben verlernt, Maß zu halten. Verlernt, Grenzen zu ziehen. Verlernt zu fragen: Dient diese Technologie dem Leben – oder nur dem Konsum, der Kontrolle, dem Reflex? Vielleicht ist es Zeit, die digitale Welt nicht zu verlassen, sondern sie neu zu begreifen. Was, wenn wir Benachrichtigungen abschalten, Abende wieder dem Gespräch statt dem Scrollen widmen, unser Viertel wichtiger nehmen als den globalen Feed? Was, wenn wir uns jede Woche einen Tag erlauben, ohne Bildschirm zu leben? Und was, wenn wir uns bei jeder digitalen Handlung fragten: „Bringt mich das näher zu dem, was wirklich zählt?“ Vor jeder technologischen Neuerung sollten wir uns fragen: Stärkt sie unsere Gemeinschaft? Macht sie uns freier – oder bindet sie uns an Systeme, die wir nicht mehr durchschauen? In unserer Begeisterung für Fortschritt haben wir zu oft übersehen, was dabei auf der Strecke bleibt: Achtsamkeit. Ruhe. Tiefe. Nähe.

Vielleicht liegt die Antwort nicht in der Rückkehr zur analogen Welt, sondern in einer Haltung der Unterscheidung. Was, wenn wir Künstliche Intelligenz und digitale Tools nicht mit blinder Gläubigkeit, sondern mit kluger Prüfung begegneten? Was, wenn wir das Internet nicht als monolithisches System betrachteten, sondern als gestaltbares Werkzeug, das unserer Vielfalt gerecht wird? Das Internet hat die Menschheit nicht zerstört. Es hat nur verstärkt, was ohnehin schon da war – unsere Genialität ebenso wie unsere Selbstzerstörung. Die entscheidende Frage bleibt: Wer kontrolliert wen? Wir die Technologie – oder sie uns? Vielleicht ist die radikalste Tat unserer Zeit nicht der nächste Tweet, nicht das nächste Upgrade. Sondern der Blick ins Gesicht eines anderen Menschen – ganz ohne Bildschirm dazwischen.

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