Artikel 72: Ein Schutzschild gegen Menschlichkeit

VonRainer Hofmann

Mai 11, 2025

Wie Europa seine Grenzen abschottet und dabei die Menschenrechte opfert

Es beginnt mit einem Paragrafen – einem juristischen Text, der nichts von der Kälte verrät, die er in die Welt bringt. Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist ein Satz aus juristischen Formeln, nüchtern und sachlich: „Dieser Titel berührt nicht die Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“

Ein Satz, der Freiheit verspricht, Schutz der Souveränität. Doch in der Realität ist dieser Artikel ein Freifahrtschein für Kälte, Härte und Abweisung. Ein Schild, hinter dem sich Regierungen verstecken, wenn sie Migranten an ihren Grenzen abweisen, wenn sie Familien auseinanderreißen und das Recht auf Asyl zur Verhandlungsmasse degradieren. Ein Werkzeug, mit dem Staaten ihre Menschlichkeit abschalten und das Völkerrecht beugen.

Europas Festung: Kälte in Paragraphen

An den Außengrenzen Europas ist Artikel 72 längst zur Standardausrede geworden. Ob Griechenland, Italien, Polen oder nun auch Deutschland – immer mehr Mitgliedstaaten berufen sich auf den „Schutz der öffentlichen Ordnung“, um das zu tun, was noch vor wenigen Jahren als Tabu galt: Menschen, die Schutz suchen, einfach zurückzuweisen. Sie sprechen von „Sicherheit“, doch es geht um etwas anderes: Angst, Macht, Kontrolle.

In Deutschland führt die neue Regierung unter Friedrich Merz und Alexander Dobrindt diesen Kurs mit einer erschreckenden Konsequenz fort. Sie setzen auf Zurückweisungen an den Grenzen, schränken den Familiennachzug ein und haben Abschiebungen nach Syrien wieder aufgenommen – in ein Land, das noch immer von einem brutalen Bürgerkrieg zerrissen wird. Sie sprechen von „Ordnung“, doch es ist die Ordnung der Kälte, die Ordnung der Ausgrenzung.

Ein Europa der Mauern und Zäune

Doch Deutschland ist nicht allein. Polen hat seine Grenzen mit Belarus abgeriegelt, litauische Grenzbeamte stoßen Migranten zurück, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen. In Griechenland ziehen Boote der Küstenwache Schleppnetze durch das Mittelmeer – nicht um zu retten, sondern um zu verhindern. In Italien sperrt man NGOs aus, die versuchen, Menschen aus dem Meer zu retten.

Artikel 72 wird zur Waffe – eine Waffe, mit der sich Europa vor den Hilferufen der Welt schützt. Und während die Mitgliedstaaten diese „Souveränität“ verteidigen, versinkt der Gedanke eines geeinten, solidarischen Europas in einem Meer von Stacheldraht, Patrouillenbooten und Abschiebungszentren.

Menschenrechte in Trümmern: Das Schweigen aus Berlin

Und was ist mit Deutschland? Was ist mit der neuen Bundesregierung unter Friedrich Merz, die sich stolz als „Verteidiger der Freiheit“ bezeichnet? Sie schweigt. Schweigt zu den Menschenrechtsverstößen an den europäischen Grenzen, schweigt zu den Berichten über Misshandlungen, schweigt zu den Tragödien im Mittelmeer.

Mehr noch: Merz und Dobrindt haben selbst Artikel 72 in ihr Arsenal aufgenommen. Sie sprechen von „Sicherheit“, von „Ordnung“, von „Schutz der eigenen Bevölkerung“. Doch in Wahrheit schützen sie nur ihre eigene Macht, ihre eigene politische Agenda. Sie haben den Begriff „Schutz“ gekapert, um Mauern zu errichten, wo es Hilfe bräuchte.

Und während die USA unter Donald Trump offen Menschenrechtsverletzungen begehen – Kinder von ihren Eltern trennen, Migranten ohne Gerichtsverfahren deportieren, Asylsuchende in Käfige sperren –, kommt aus Berlin kein Wort der Kritik. Kein Aufschrei, kein Protest. Als Trump massenweise Migranten ohne Anhörung deportieren ließ, herrschte Schweigen in der deutschen Regierung. Als Familien auseinandergerissen wurden, blieb Deutschland stumm.

Die Festung und der Spiegel: Europa und die USA

Die USA leben es vor, und Europa schaut fasziniert zu. Während Trump die Grenzen schloss, baut Europa seine eigene Festung. Während in den USA Kinder aus den Armen ihrer Eltern gerissen werden, riegelt Europa seine Strände ab. Doch es gibt einen Unterschied: Trump hat nie versucht, seine Grausamkeit zu verbergen. Er war stolz auf seine Politik der Abschottung.

Europa hingegen kleidet seine Härte in das Gewand des Rechts. Artikel 72 AEUV – ein Paragraf, so unscheinbar wie ein Messer im Mantel. Ein juristischer Satz, der Staaten erlaubt, ihre Menschlichkeit abzuschalten. Ein Werkzeug für Regierungen, die auf der einen Seite von „europäischen Werten“ sprechen, während sie auf der anderen Seite Menschen zurück ins Elend stoßen.

Ein Europa, das seine Seele verkauft

Artikel 72 – das ist der Paragraf, der Europa erlaubt, wegzuschauen. Der Paragraf, der den Staaten das Recht gibt, sich hinter Zäunen und Mauern zu verstecken. Doch was bleibt von einem Europa, das seine Seele verkauft? Was bleibt von einer Europäischen Union, die sich ihrer eigenen Werte schämt?

Was bleibt, ist eine Union der Scheinheiligkeit, eine Union der Doppelmoral. Eine Union, die Menschenrechte predigt und Grenzen baut. Eine Union, die Schutz verspricht und Mauern errichtet. Und ein Deutschland, das sich in diese Union einfügt – nicht als moralische Führungsmacht, sondern als einer der eifrigsten Verteidiger der neuen Festung Europa.

Und während Artikel 72 als Schutzschild für die Mächtigen dient, bleibt den Schutzlosen nichts als das kalte Wasser des Mittelmeers und die stählernen Tore an den Grenzen Europas. Eine Mauer aus Paragraphen – errichtet im Namen der Sicherheit, errichtet auf den Trümmern der Menschlichkeit.

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