Die Saat des Hasses – Wenn Europa brennt und niemand mehr wegsieht

VonRainer Hofmann

Juni 11, 2025

Ballymena. Eine Kleinstadt in Nordirland, bekannt für seine Ziegelbauten, seine Loyalisten und seine Geschichte. Und nun auch für brennende Häuser, zerborstene Fenster, rassistische Hetzjagden und eine Polizei, die mit Gummigeschossen gegen ihre eigene Jugend vorgeht. 17 Beamte verletzt in nur einer Nacht, fünf Festnahmen, Brandsätze, Molotowcocktails, und ein Flächenbrand, der weit über die Stadtgrenzen hinaus reicht – hinein in ein Europa, das zunehmend vergisst, was es einmal sein wollte.

Was sich in Ballymena in diesen Tagen ereignet, ist kein lokaler Ausbruch. Es ist Symptom eines Fiebers, das sich längst über den Kontinent gelegt hat. Eine Krankheit, genährt von populistischer Rhetorik, digitaler Desinformation und der systematischen Demontage demokratischer Anstandsregeln. Zwei vierzehnjährige Jungen, angeklagt wegen einer mutmaßlichen Vergewaltigung, reichen in diesem Klima aus, um ganze Straßenzüge in Brand zu setzen – nicht wegen der Tat, sondern wegen ihrer Sprache: Rumänisch. Nicht der Rechtsstaat, sondern die Herkunft entscheidet über Schuld im Mob der Empörung. Die Polizei spricht von „rassistischem Rowdytum“, doch es ist mehr. Es ist eine kollektive Enthemmung, geboren aus rechten Echokammern, politischen Feiglingen und einem ideologischen Sog, der von der britischen Insel bis nach Budapest reicht.

Denn Ballymena ist kein Einzelfall. Es ist ein Fragment der gleichen Gewalt, die in Südfrankreich gegen Migrantenmärsche wütet, die in Sachsen Asylunterkünfte in Brand setzt und die in Trumps Amerika ICE-Kommandos ausschwärmen lässt, um selbst UNICEF-Botschafter an Flughäfen festzusetzen. Die Gesichter mögen wechseln, die Strategie bleibt dieselbe: Angst als Werkzeug, Ausgrenzung als Programm. Man mobilisiert die Wut der Straße, gibt ihr ein Feindbild – und schweigt, wenn daraus Flammen werden. Und diese Flammen beginnen zu lodern. In Nordirland, wo Clonavon Terrace zur Kampfzone wird, stellen Menschen Schilder mit der Aufschrift „British“ in ihre Fenster – in der Hoffnung, nicht Opfer zu werden. In Belfast stehen noch immer die Mauern zwischen Protestanten und Katholiken, und nun kommen neue Mauern hinzu – unsichtbare, aber ebenso tödliche: zwischen Migranten und Alteingesessenen, zwischen Recht und Rechtfertigung, zwischen Mitgefühl und Zorn.

Die politische Klasse liefert, was sie verspricht – wenn auch in düsterer Umkehrung. Jim Allister von der Traditional Unionist Voice erklärt, „unkontrollierte Migration“ sei schuld – ein Satz, der klingt wie eine Parole, aber wirkt wie ein Befehl. Das Gift tropft langsam, aber zuverlässig: zuerst in die Kommentarspalten, dann auf die Straßen, schließlich in die Köpfe. Wer heute in Ballymena mit einem rumänischen Akzent spricht, wird nicht mehr nur beschimpft. Er fürchtet um sein Leben.

Und Europa? Europa schweigt. Wieder einmal. In London formuliert die Regionalregierung Appelle zur Mäßigung, doch die Polizei bereitet sich bereits darauf vor, Verstärkung aus England und Wales anzufordern. Es ist ein Tanz auf Messers Schneide – in einem Land, das vor nicht einmal drei Jahrzehnten noch blutend aus dem Bürgerkrieg kroch, und das nun Gefahr läuft, wieder in die Knie zu gehen. Diesmal nicht entlang konfessioneller Linien – sondern entlang nationalistischer, rassistischer, anti-humanistischer Bruchkanten. Und das Muster wiederholt sich: Ob Nordirland, Südfrankreich, Sachsen oder Arizona – es sind immer dieselben Mechanismen, dieselben Narrative, dieselben stillschweigenden Ermutigungen von ganz oben. Präsident Trump nennt Demonstrierende „Tiere“ und „ausländische Feinde“, und in Ballymena hört man diesen Satz wie ein Echo, das sich in Pflastersteinen übersetzt.

Diese Spirale muss gebrochen werden. Nicht durch neue Zäune, nicht durch noch härtere Polizeieinsätze, sondern durch eine Politik, die sich nicht länger vor der eigenen moralischen Verantwortung drückt. Die Gewalt in Ballymena ist keine Ausnahme, sondern Vorbote. Die Brandherde sind entzündlich. Was heute Häuser trifft, kann morgen Demokratien zerstören. Wer jetzt nicht aufsteht, wird morgen in einem Europa leben, in dem das Wort „Zivilgesellschaft“ nur noch ein Schatten dessen ist, was es einmal bedeutete. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen ihre Herkunft auf Schilder schreiben müssen, um sicher zu sein. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Lügen in Gewalt übersetzt werden. Und wir dürfen nicht hinnehmen, dass unsere Kinder lernen, Feuer zu legen, bevor sie gelernt haben, zuzuhören.

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