Die Rückkehr kam ohne Vorwarnung. Mitte Dezember tauchte Gregory Bovino wieder im Raum Chicago auf, begleitet von mehreren Hundert Bundesbeamten – und einem Filmteam. Dieselben harten Methoden, die schon Monate zuvor Proteste ausgelöst hatten, wurden erneut eingesetzt. Festnahmen ohne erkennbare Haftbefehle, massive Präsenz, maximale Sichtbarkeit. Für die Stadtverwaltung war schnell klar, worum es ging: nicht um Recht, sondern um Inszenierung. Ein Sprecher von Chicagos demokratischem Bürgermeister Brandon Johnson sprach offen von politischem Theater. Menschen würden wahllos festgenommen, Familien traumatisiert, während Kameras liefen. Die Einsätze würden zur Schau gestellt, die Betroffenen zu Statisten degradiert. Das sei falsch, destabilisiere die Stadt und missachte jede Form von Menschlichkeit.
Doch inzwischen geht es um mehr als Bilder. Eine neue Eskalationsstufe ist erreicht. Doch was sich inzwischen abzeichnet, geht weit über Inszenierung hinaus. Eine neue Eskalationsstufe ist erreicht. Bis vor Kurzem galt unausgesprochen eine Grenze: Waffen wurden in der Regel erst dann auf Menschen gerichtet, wenn sie ihr Fahrzeug verlassen hatten oder sich offen widersetzten. Diese Grenze existiert faktisch nicht mehr. Heute wird die Waffe fast unmittelbar gezogen. Der Lauf zeigt direkt auf Menschen, selbst wenn sie im Auto sitzen, Journalisten vom Auto aus dokumentieren wollen, was auf den Straßen in Amerika wirklich los ist. Auf Beobachter. Auf Journalisten. Auf jene, die nichts anderes tun, als hinzusehen und festzuhalten, was geschieht. Die Drohung ist nicht mehr indirekt, sie ist konkret. Wer filmt, steht nicht mehr nur unter Druck – er steht im Visier.
Kein Kinofilm, sondern die Realität auf den Straßen von Amerika. Wer tatsächlich die AfD wählt, provoziert geradezu eine solche Politik auch in Deutschland. Wir können das beurteilen, denn wir sind auf den Straßen von Amerika und dokumentieren, was sich dort ereignet, und helfen den Betroffenen, wo wir nur können.
Neu ist dieses Vorgehen nicht im Ansatz, wohl aber in seiner Konsequenz. Unter Präsident Donald Trump ist das Heimatschutzministerium längst mehr als eine Behörde. Es produziert Bilder, Videos und Clips, die Abschiebungen wie Erfolge verkaufen sollen. Kristi Noem veröffentlichte selbst Aufnahmen von Razzien. Der offizielle Auftritt des Ministeriums in sozialen Netzwerken zeigt Festnahmen, Zugriffsszenen, Handschellen – sorgfältig geschnitten, verbreitet, kommentiert. Staatliche Macht wird gefilmt, verpackt und faschistisch präsentiert.
Gleichzeitig wird genau das kriminalisiert, was diese Bilder kontrollierbar macht: die Kamera der Öffentlichkeit. Noem erklärte, Gewalt gegen ICE-Beamte sei nicht nur körperlicher Angriff. Welche Gewalt gegen ICE-Beamte, kommt einem direkt in den Sinn. Gewalt sei auch, wer Beamte filme, sie bei Einsätzen aufnehme oder sichtbar mache, wo sie sich aufhielten. In einer Stellungnahme hieß es sogar, das Aufzeichnen oder Verfolgen von Bundesbeamten ist Strafvereitelung. Eine Einschätzung, die Gerichte seit Jahren klar zurückweisen. So werden inzwischen selbst Angehörige zu Kriminellen erklärt, nur weil sie einem ICE-Fahrzeug folgen, um überhaupt zu erfahren, in welche Haftanstalt ihre Familienmitglieder gebracht werden – damit diese Information an Rechtsanwälte oder Hilfsorganisationen weitergegeben werden kann.
In Charlotte, North Carolina, haben Bundesagenten zwei Menschen 10 Tage vor Heiligabend festgenommen. Ihr Vergehen: Sie haben andere vor bevorstehenden ICE-Razzien gewarnt.
Menschen, die vor ICE-Einsätzen warnen, werden festgenommen, wie Terroristen eingestuft, weil, es ist nicht Systemgetreu. Der Wahn des Rechtspopulismus kennt keine Grenzen und keinen Widerspruch.
Was dabei oft unterschlagen wird: Journalistinnen, Aktivisten und Anwohner, die diese Einsätze dokumentieren, tun dies längst unter realer Gefahr. Paradox, aber wahr: Wer heute in den USA staatliches Handeln sichtbar macht, arbeitet zunehmend unter Bedingungen, die an Lebensgefahr grenzen. Nicht, weil er angreift, sondern weil er bleibt. Weil er filmt. Weil er nicht wegsieht. Sich diesem System entgegenzustellen, bedeutet inzwischen, sich bewusst einer Bedrohung auszusetzen, die früher undenkbar schien. Denn das bloße Filmen von Polizisten oder Bundesbeamten im Dienst ist geschützt. Solange niemand eingreift oder gefährdet wird, fällt diese Beobachtung unter die Meinungs- und Pressefreiheit. Sie ist ein zentrales Mittel öffentlicher Kontrolle. Genau darauf weist auch David Bier vom Cato Institute hin. Er spricht von einer landesweiten Praxis des Einschüchterns, gezielt gegen Menschen, die Einsätze beobachten und dokumentieren wollen.

Ryanne Mena, eine Reporterin der Los Angeles Daily News, wurde von einem Geschoss am Kopf getroffen. Die erfahrene Journalistin, die schon mehrfach Tränengas ausgesetzt war, beschreibt diesen Tag als beispiellos: „Ich habe Asthma, und es war wirklich schwer für mich zu atmen oder zu sehen. Mein Kollege musste mich um die Ecke führen, weg von dieser riesigen Tränengaswolke. Wir husteten nur noch, kämpften um Luft.“ Die Diagnose: Gehirnerschütterung.
Wenn eine Partei wie die AfD davon spricht, in Deutschland und Europa werde die Meinungsfreiheit „angegriffen“, offenbart das bereits ein doppeltes Versagen. Entweder ist diese Partei nicht im Ansatz regierungsfähig, weil sie nicht versteht, was derzeit in den Vereinigten Staaten geschieht. Oder – und das ist deutlich wahrscheinlicher – sie versteht es sehr genau, billigt es und möchte genau diese Politik auch hier durchsetzen. Dann sollte man allerdings aufhören, wie ein Wolfswelpe zu jaulen, sobald man sie rechtsextremistisch oder faschistisch nennt. Denn das, was in Amerika passiert, ist Faschismus. Nicht als Beschimpfung, sondern als Beschreibung. Der AfD-Wähler, der in Deutschland auf die Straße geht, um gegen irgendetwas zu demonstrieren, würde böse staunen, wie sein Verhalten in den USA beantwortet würde. Kameras, gezogene Waffen, Einschüchterung, Festnahmen – nicht nach einer Eskalation, sondern sofort. Wer das bewundert oder importieren will, hat jedes Recht verwirkt, sich über klare Worte zu beschweren. Bei der AfD bedeutet Meinungsfreiheit in Wahrheit etwas sehr Einfaches: Zustimmung. Wer nicht derselben Meinung ist wie diese Partei, gilt ihr bereits als jemand, der die Meinungsfreiheit „untergräbt“. Abweichende Positionen werden nicht als legitimer Teil einer offenen Gesellschaft akzeptiert, sondern als Angriff gewertet. Eigene Meinungen sind nur dann erwünscht, wenn sie im Sinne der Partei liegen. Alles andere wird delegitimiert, diffamiert oder als feindlich markiert. Sie können das noch so oft anders behaupten – die Praxis zeigt etwas anderes. Das ist die Realität.
Aber zurück in die USA. Der Widerspruch ist offenkundig. Während staatliche Stellen eigene Kamerateams mitführen, Medien einladen oder selbst Material produzieren, sollen Bürgerinnen und Bürger schweigen, wegsehen, ihre Handys senken. Nach der eigenen Logik des Ministeriums müsste sogar das staatliche Filmen selbst problematisch sein. Auch diese Bilder können Beamte sichtbar machen, auch sie zeigen Abläufe, Orte, Gesichter. Doch hier gilt ein anderes Maß. Die Freiheit endet dort, wo sie unkontrolliert wird. Was sich hier herausgebildet hat, ist keine Überreaktion einzelner Beamter, sondern ein System. Eine Vorgehensweise, die in ihrer Einschüchterung, ihrer Willkür und ihrer gezielten Drohung historische Parallelen aufdrängt. Nicht als Schlagwort, sondern als Beschreibung eines Zustands. Wer heute dokumentiert, was auf Amerikas Straßen geschieht, steht einer Staatsmacht gegenüber, die gelernt hat, dass Angst schneller wirkt als Recht.
Natürlich lässt man sich davon nicht einschüchtern. Aber es ist eine Stufe erreicht, die jede bisherige Vorstellung sprengt. Die Kamera ist zur Gefahr geworden, nicht für den Staat, sondern für jene, die sie halten. Und genau das sagt mehr über den Zustand dieses Systems aus als jedes Propagandavideo.
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