In den Vereinigten Staaten fehlt jemand. In Deutschland vielleicht auch bald mehr, als lieb ist. Nicht als Schlagzeile, nicht als Zahl in einer Tabelle, sondern als Lücke im Alltag: auf Baustellen, in Krankenhäusern, in Schulfluren, auf Sportplätzen und in den kleinen Routinen, die eine Stadt zusammenhalten. Ein Jahr nach Beginn von Donald Trumps groß angelegter Abschiebe- und Abschottungspolitik ist diese Leerstelle nicht mehr zu übersehen. Sie zeigt sich nicht nur an der Grenze, sondern weit dahinter – in Orten, die nichts mit Flughäfen oder Küsten zu tun haben, und genau deshalb so viel über das verraten, was als Nächstes kommt.
Die Regierung hat die Türen enger gestellt, an mehreren Stellen zugleich. Die Grenze wurde weiter abgeriegelt, legale Wege wurden eingeschränkt, Gebühren erhöht, Verfahren verlangsamt, Ausnahmeregeln zurückgenommen. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist praktisch zum Stillstand gekommen. Internationale Studierende kommen deutlich seltener. Vor allem aber werden Hunderttausende Menschen, die unter der vorherigen Regierung zeitweise Schutz- und Arbeitsprogramme erhalten hatten, wieder in einen Zustand gedrängt, in dem jeder Brief, jede Verlängerung, jede Unterschrift zur Existenzfrage wird. Die Regierung erklärt, sie habe bereits mehr als 600.000 Menschen aus dem Land entfernt. Ökonomen schätzen, dass die Nettozuwanderung unter den aktuellen Maßnahmen bei etwa 450.000 Menschen pro Jahr liegt – weit entfernt von den zwei bis drei Millionen, die zuvor jährlich netto kamen.
Das klingt nach Statistik. In Wirklichkeit bedeutet es: weniger Kolleginnen im Pflegeheim, weniger Erzieherinnen in der Kita, weniger Teams in der Nachwuchsliga, weniger Handwerker auf dem Gerüst. Und es bedeutet mehr Angst – denn die Angst ist in diesen Monaten selbst zu einer Art Wirtschaftsfaktor geworden. Wenn in einer Nachbarschaft die Stimmung kippt, wird nicht nur weniger eingekauft, weniger gefeiert, weniger gelacht. Dann bleiben Menschen zu Hause, Kinder fehlen in der Schule, Veranstaltungen werden abgesagt, und irgendwann fällt es auf: Der Ton in der Stadt wird leiser.

Was Einwanderung wirklich kann – und warum andere daran scheitern
Einwanderung ist kein Chaosfaktor, sie ist Organisation. Menschen kommen nicht allein, sie kommen mit Familien, Netzwerken und Arbeitswillen. Sie ziehen dorthin, wo es günstig ist, wo Raum ist, wo andere längst aufgegeben haben. Sie übernehmen Betriebe, Schulen, Sportvereine und Nachbarschaften und machen aus schrumpfenden Orten wieder funktionierende Orte. Das geschieht nicht durch staatliche Programme, sondern durch Alltag, Verwandtschaft, Weitergabe von Wissen und Bereitschaft zum Risiko. Es ist kein Idealismus, sondern nüchternes Handeln mit langfristigem Blick: nicht ein Haus, sondern mehrere, nicht ein Job, sondern tragfähige Strukturen.
Die Wut der Sesshaften – Ein politischer Widerspruch
Die lautesten Gegner von Einwanderung sind auffällig unbeweglich. Sie würden niemals nach Garden City in Kansas ziehen oder in den Südwesten des Bundesstaates, wo genau das passiert, was sie angeblich ablehnen. Dort übernehmen Latinos Branchen, Gemeinden und ganze Wirtschaftszweige, nicht durch Parolen, sondern durch Präsenz und Arbeit. Gleichzeitig träumen ihre Kritiker von null Migration, billigen Lebensmitteln und sinkenden Immobilienpreisen in den begehrtesten Postleitzahlen. Das ist ein Wunschbild ohne Zusammenhang. Wer wirklich gestalten wollte, würde umziehen, investieren und bleiben. Stattdessen klammert man sich an überteuerte Städte und erklärt diese Bequemlichkeit zur politischen Haltung.
Man kann das in Südflorida sehen, wo eine venezolanische Orchestertradition normalerweise ein generationenübergreifendes Fest ist: Salsa, Paso Doble, Familien, die jedes Jahr wiederkommen. Dieses Mal wurde das Konzert kurzfristig gestrichen – nicht, weil niemand mehr Musik will, sondern weil zu viele Angst hatten, überhaupt vor die Tür zu gehen. Man kann es in Los Angeles und New York an sinkenden Schülerzahlen sehen, in Kirchen und Läden in Vierteln mit hohem Migrantenanteil, die plötzlich weniger voll sind. Und man sieht es in Memphis, wo eine Nachbarschafts-Soccer-Liga nicht mehr genügend Mannschaften zusammenbekommt, weil Kinder nicht mehr auftauchen – nicht aus Sportmüdigkeit, sondern weil Eltern nicht wissen, ob ein Weg über den Platz am Ende ein Risiko ist.
Besonders deutlich wird diese Entwicklung in Marshalltown, Iowa. 28.000 Einwohner, eine Stunde nordöstlich von Des Moines, ein Ort, der lange als typisch amerikanische Kleinstadt galt und sich in drei Jahrzehnten sichtbar verändert hat. In den 1990er Jahren kamen mexikanische Arbeiterinnen und Arbeiter – viele ohne Papiere – für Jobs in der Fleischverarbeitung. Nach einer großen Razzia 2006 kamen Menschen mit stabileren Statusformen: Geflüchtete aus Myanmar, Haiti, aus der Demokratischen Republik Kongo. Heute stehen rund um das historische Gerichtsgebäude chinesische, mexikanische und vietnamesische Restaurants. In den Schulen werden ungefähr 50 Dialekte gesprochen. Die katholische Messe auf Spanisch ist so voll, dass die Bänke nicht reichen. Und am Stadtrand steht seit 2021 eine große Buddha-Statue, errichtet von einer burmesischen Religionsgemeinschaft – ein Zeichen dafür, wie sehr sich ein Ort neu beleben kann, wenn er nicht nur schrumpft, sondern wächst.
Die große Einwanderungspartei Mar-a-Lago
Es hat etwas Rührendes, wie Donald Trump Jahr für Jahr beweist, dass niemand die USA konsequenter mit ausländischen Arbeitskräften flutet als er selbst – nur eben dort, wo es ihm persönlich nützt. Während er auf Bühnen über „Migrantenfluten“ spricht, die angeblich „alles zerstören“, stellt seine eigene Firma still und leise Rekorde auf. 184 ausländische Arbeitskräfte allein in diesem Jahr – für Mar-a-Lago, seine Golfclubs und sogar ein Weingut, das ohne billige Erntehelfer vermutlich sofort kollabieren würde.

Man muss sich das vorstellen: Der Mann, der die Grenze verrammeln will, damit „kein einziger Ausländer mehr reinkommt“, importiert seit Jahren mehr Menschen für seine Privatbetriebe als manche mittelgroße US-Firma. Seit 2008 hat die Trump Organization exakt 2.033 ausländische Arbeitskräfte per H-2A- und H-2B-Visum beantragt. Und 2025 setzt er mit 184 neuen Anträgen noch einen drauf – ein Rekordjahr für Amerikas „Anti-Einwanderungs-Präsidenten“. Es sind auch nicht etwa hochspezialisierte Fachkräfte, die das Land dringend bräuchte. Nein, Trump benötigt vor allem:
- Tellerwäscher
- Zimmermädchen
- Kellner
- Küchenhilfen
- Farmarbeiter
Alles Tätigkeiten, von denen er öffentlich behauptet, sie würden „Amerikanern weggenommen“. Außer natürlich in seiner Welt, wo amerikanische Arbeitskräfte einfach nicht gut genug sind, um beim Golfclub die Garnelenplatte zu servieren.
Dabei hat Trump längst sein eigenes Golden-Visa-Programm erfunden. Die absurden „Trump Gold Cards“ – ein neues Instrument, mit dem er ausländischen Staatsbürgern Daueraufenthalt + Weg zur Staatsbürgerschaft anbietet, sofern sie 100.000 Dollar für ein H-1B-Visum bezahlen. Es ist die perfekteste Verkörperung seiner Philosophie: Migration ist böse, außer sie finanziert ihn selbst.
Im Fox-Interview mit Laura Ingraham wurde die Doppelzüngigkeit kurz sichtbar. Trump lobte plötzlich H-1B-Visa, die er sonst abschaffen wollte, als „notwendig für besondere Talente“. Ingraham widersprach ihm halbherzig – aber auch sie weiß: Ohne ausländische Arbeitskräfte würde Mar-a-Lago vermutlich im Dezember schließen müssen, weil niemand da wäre, der die Buffetspuren der Halloween-Party wegräumt.

Noch pikanter wird es, wenn man sieht, welche Betriebe da eigentlich nach Personal lechzen. Unter den Standorten, die jetzt wieder ausländische Arbeiter beantragen, befinden sich zwei, die früher wegen des mutmaßlich unsachgemäßen Umgangs mit klassifizierten Dokumenten durchsucht wurden. Ein Untersuchungsverfahren, das – welch Zufall – nach Trumps Wahlsieg 2024 eingestellt wurde. Vielleicht fehlten schlicht die Zimmermädchen, um die heiklen Kisten ordentlich beiseitezuräumen. Trump kontrolliert seine Marke weiterhin persönlich über den „Donald J. Trump Revocable Trust“ und verdient an jedem einzelnen dieser Betriebe Geld, während er gleichzeitig als Präsident regiert. Das ist juristisch fragwürdig, moralisch grotesk und politisch ein Geschenk an jeden Satiriker – aber letztlich nur konsequent.
Denn niemand verkörpert den Satz „Do as I say, not as I do“ mit mehr Hingabe als Donald Trump, der Einwanderung verteufelt, während er selbst ein kleiner, hoch effizienter Importeur billiger Arbeitskräfte geblieben ist. Mar-a-Lago als Leuchtturm der Grünen Karte – nur eben für jene, die keine Ansprüche stellen, nicht wählen dürfen und billiger sind als ein Mindestlohn in New Jersey. Man sollte ihm dafür fast danken: Selten hat jemand so ungewollt ehrlich gezeigt, woran rechte Anti-Migrationspolitik wirklich scheitert. Nicht an Ideologie. Sondern an der Frage: Wer soll sonst die Betten machen?
Der künftige Bürgermeister von Marshalltown sagt es schlicht: Neue Menschen bringen Energie, und ohne Zuzug altert eine Gemeinde einfach weg. Wer könnte das besser bezeugen, als Präsident Trump selber? Diese Aussage klingt wie kommunale Vernunft, keine Ideologie. Und genau deshalb ist sie so brisant, wenn jetzt die Gegenbewegung sichtbar wird. Feste sind dünner besucht. Eltern nehmen ihre Kinder aus der Schule, sobald sich eine Festnahme herumspricht. Auf einer Baustelle, beim Bau eines Highschool-Sportstadions, fehlte plötzlich der zuständige Bauleiter – er hatte ein Abschiebeschreiben bekommen. Im großen Schweinefleischbetrieb verlieren Menschen ihre Arbeit, weil ihre Arbeitserlaubnisse auslaufen und nicht rechtzeitig verlängert werden. In einer Stadt dieser Größe ist jeder Ausfall mehr als eine Personalnotiz. Es ist ein Riss, den alle spüren – auch diejenigen, die nie selbst bedroht sind.
Das Ergebnis der Abwesenheit
Diese Gegenden existieren bereits. Sie sind kein linkes Märchen. Sie liegen abseits der Metropolen, fern von Einwanderung, fern von Zuzug, fern von Dynamik. Leere Häuser, ausgebrannte Straßenzüge, verbarrikadierte Läden, improvisierte Behausungen. Orte, an denen niemand „übernommen“ hat, weil niemand gekommen ist. Keine neuen Betriebe, keine neuen Familien, keine Weitergabe von Arbeit oder Verantwortung. Was bleibt, ist Stillstand, der langsam in Verfall kippt. Nicht durch äußeren Druck, sondern durch Ausbleiben von Bewegung. Das ist kein moralisches Urteil, sondern ein sichtbares Resultat. Regionen ohne Migration sind nicht idyllisch ruhig, sie sind strukturell ausgehungert.
Die Illusion vom Stillstand als Lösung
Diese Bilder zeigen das Gegenteil der versprochenen Zukunft. Kein billiges Wohnen mit Wohlstand, kein Aufschwung ohne Veränderung. Stattdessen: geschlossene Hauptstraßen, informelle Armut, kaputte Infrastruktur. Wer Migration abschaffen will, bekommt nicht Ordnung, sondern Leere. Nicht Gemeinschaft, sondern Vereinzelung. Nicht Kontrolle, sondern Aufgabe. Die Vorstellung, man könne Wachstum einfrieren und dennoch profitieren, hält der Realität nicht stand. Orte ohne Zuzug werden nicht bewahrt, sie werden langsam aufgegeben. Und genau das sieht man dort, wo niemand mehr ankommt.

Tetiana und Sergii Fedko kamen 2023 gemeinsam mit fünf weiteren ukrainischen Familien nach Marshalltown. Ihre drei Söhne gehen dort zur Schule, und die Familie hat ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft, das sie sich nun Schritt für Schritt zu einem neuen Zuhause aufbaut.
Ein Paar aus der Ukraine zeigt, wie schnell das passieren kann. Sergii Fedko, Ingenieur, und seine Frau Tetiana kamen 2023 mit fünf weiteren ukrainischen Familien über ein spezielles Aufnahmeprogramm. Er fand rasch Arbeit in einem lokalen Architekturbüro als Designer und Zeichner, sie arbeitet in einer Kindertagesstätte und ist dort offenbar längst eine der tragenden Kräfte. Drei Söhne, Schule, Sport, Schwimmen, zwei Autos, ein renovierungsbedürftiges Haus – das klassische Einleben, das man in den USA sonst gern als Erfolgsgeschichte erzählt. Doch dann änderten sich die Regeln. Sie stellten rechtzeitig den Antrag auf Verlängerung ihres befristeten Status. Die Bearbeitung wurde angehalten, Anforderungen verschoben, Fristen wurden zu Nervenproben. Aus Angst, am Ende einfach zu fallen, beantragten sie zusätzlich Asyl. Mitte Dezember kam die Nachricht: Seine Verlängerung ist genehmigt – aber nur mit einer neuen Gebühr von 1.000 Dollar. Ihr Antrag hängt weiter in der Luft.
Was nach Bürokratie klingt, hat eine unmittelbare Folge: Wenn sie ihre Arbeitserlaubnis verliert, verschärft das den Personalmangel in der Kinderbetreuung – und der trifft nicht nur Migrantenfamilien, sondern amerikanische Eltern, die ohne Betreuung nicht arbeiten können. Seine Chefin versucht zu helfen, auch aus Eigeninteresse: In der Region gibt es kaum qualifizierte Fachkräfte in diesem Bereich. Wenn er nicht bleiben kann, sagt sie, wird sie kaum Ersatz finden. Diese Sätze sind keine politischen Reden. Es sind Sätze aus dem Maschinenraum des Alltags.

Farmern fehlen seit Monaten Feldarbeiter – Ernten verkommen und Felder können teils nicht bewirtschaftet werden
Die Trump-Regierung macht zugleich deutlich, dass sie mehr will als nur weniger irreguläre Migration. Die Zielmarke, die im Hintergrund immer wieder aufgerufen wird, ist eine Lage wie in den 1920er Jahren: drastische Einschränkungen, Quoten, eine Art Null-Zuzug. Damals entstand eine Gesetzgebung, die große Teile der Welt praktisch ausschloss, vor allem aus Asien, und die Einwanderung aus Teilen Europas stark begrenzte. In dieser Zeit wurde auch die Grenzschutzbehörde in ihrer modernen Form aufgebaut. Der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung sank langfristig so stark, dass er 1970 bei 4,7 Prozent lag. Heute liegt er bei 14,8 Prozent – so hoch wie zuletzt 1890. Ein Berater Trumps, Stephen Miller, preist die Jahrzehnte niedriger Einwanderung als letzte Phase, in der die USA „unbestrittene globale Supermacht“ gewesen seien.

Viele Läden müsste ihre Öffnungszeiten ändern, da Personal fehlen würde. Auch in Deutschland trifft man auf das Problem, zum Beispiel bei Bäckereibetrieben.
Die historische Parallele geht über Zahlen hinaus. Schon damals war die Stimmung aufgeheizt: Angst vor Kriminalität, Misstrauen gegenüber neuen politischen Ideen, Streit um kulturelle Anpassung, Sorge um sinkende Geburtenraten der Einheimischen, die Hoffnung auf höhere Löhne, die Furcht vor einer neuen Unterschicht. Heute kommen dieselben Motive wieder – nur mit moderneren Verstärkern, mehr medialer Dauerbeschallung und einer Sprache, die wieder Menschen zu Last und Gefahr erklärt. Trump spricht über Herkunftsländer als „Höllenlöcher“ und behauptet, andere Staaten würden Gefängnisse und psychiatrische Kliniken in Richtung USA leeren. Es ist die alte Erzählung, nur neu verpackt: nicht Einwanderer als Nachbarn, sondern als Müll, der „abgeladen“ wird.
Und was passiert wirtschaftlich, wenn ein Land wirklich weniger Zuwanderung hat? Die Antwort ist nicht so einfach, wie es die Parolen versprechen. In der Zwischenkriegszeit stiegen Löhne in manchen Regionen tatsächlich kurzfristig. Aber Arbeitgeber fanden Wege, nicht dauerhaft mehr zu zahlen: Sie rekrutierten in Ländern, die nicht unter die Beschränkungen fielen, sie setzten auf Maschinen, sie verlagerten Produktion, und amerikanische Arbeitskräfte zogen in Städte, wodurch Engpässe gemildert wurden. Manche Branchen schrumpften insgesamt – etwa Kohle, die zuvor stark von eingewanderten Arbeitskräften abhängig gewesen war. Ein Blick in die 1930er Jahre zeigt noch eine andere Warnung: Eine Studie zu den massenhaften Ausweisungen zehntausender Mexikanerinnen und Mexikaner in der frühen Depression fand ausgerechnet höhere Arbeitslosigkeit und gedrückte Löhne für Einheimische. Ein Grund: Wenn ganze Sektoren wie Landwirtschaft, Bau und Industrie ihre Arbeitskräfte verlieren, bricht nicht nur der Lohn einer Gruppe weg – der gesamte Sektor kann Schaden nehmen und kleiner werden.
Heute ist die „Ausweichliste“ der Unternehmen sogar größer: Outsourcing, Automatisierung, künstliche Intelligenz, Robotik. Aber an vielen Stellen hilft keine App. Ein Gesundheitsmanager aus West Virginia bringt es auf den Punkt: Wer ein Kind zur Welt bringt, braucht Hände am Patienten, nicht einen entfernten Bildschirm. West Virginia ist älter, kränker, ärmer als viele andere Bundesstaaten – und schon jetzt sind fast ein Fünftel der Pflege-Stellen unbesetzt. Ein Drittel der Ärzte im Staat hat im Ausland studiert. Krankenhäuser haben dort bereits Fachkräfte verloren, weil diese entweder kein Visum bekamen oder fürchteten, dauerhaft nicht bleiben zu können. Also gingen sie in andere Länder oder in andere Systeme. Das ist der Moment, in dem ein politisches Projekt in einer Notaufnahme ankommt: nicht als Debatte, sondern als fehlende Schicht, als verschobene Behandlung, als weniger Kapazität.
Auch in der Landwirtschaft gilt: Es gibt Arbeit, die sich nicht einfach wegtechnologisieren lässt. Für manche Ernten gibt es bis heute keine Maschinen, die schonend genug greifen können. In Zeiten niedriger Einwanderung verschwanden bestimmte Produkte aus den Regalen oder wurden schlicht importiert. Ein Milchbauer aus Pennsylvania beschreibt die Realität ohne Beschönigung: Für zehn Stellen bewirbt sich vielleicht ein einziger amerikanischer Arbeitskraft – wenn überhaupt. Er arbeitet mit mehr als einem Dutzend ausländisch geborener Beschäftigter, viele aus Mexiko. Er glaubt nicht, dass er sie ersetzen kann, wenn sie wegfallen.
Der Druck trifft aber nicht nur körperliche Arbeit. Ein Restaurantunternehmer aus dem Südosten berichtet, dass er seit Jahresbeginn Beschäftigte verliert – nicht nur in der Küche, sondern auch in Managementfunktionen, darunter Menschen mit Hochschulabschluss. Er fürchtet nicht nur um seine Filialen, sondern um etwas, das Amerika jahrzehntelang als stilles Kapital hatte: den Ruf als Ort, an dem man aufsteigen kann. Wenn dieser Ruf beschädigt wird, sagt er, reicht es später nicht, Gesetze wieder zu lockern. Dann bräuchte es eine Art Image-Rettung, um überhaupt wieder Talente anzuziehen.
Universitäten spüren das bereits. Internationale Studierende zahlen oft volle Gebühren, damit finanzieren viele Hochschulen Programme und Grundkosten. Wenn diese Studierenden ausbleiben, entstehen Löcher in den Haushalten. Und auch bei qualifizierter Einwanderung ist der Rückgang spürbar: Fast die Hälfte der legal Eingewanderten zwischen 2018 und 2022 war akademisch ausgebildet. Menschen mit Einwanderungsgeschichte gründen überdurchschnittlich häufig Unternehmen; fast die Hälfte der Fortune-500-Konzerne wurde von Einwanderern oder deren Kindern gegründet. Studien zeigen zudem, dass nach den restriktiven Gesetzen der 1920er Jahre weniger Patente für Erfindungen in den USA vergeben wurden. Eine Wirtschaft wird nicht nur kleiner, wenn weniger Menschen kommen. Sie wird auch weniger beweglich, weniger vielfältig, weniger überraschend.
Ein Beispiel aus der Gegenwart macht das greifbar: Ein junger Gründer aus dem Iran, der in Montreal lebt, wollte sein KI-Start-up eigentlich Richtung San Francisco entwickeln. Doch im Sommer wurde ein Einreiseverbot für Menschen aus mehreren muslimischen und anderen Ländern verhängt, darunter Iran. Damit war das Reisen in die USA faktisch blockiert, Treffen mit Investoren und Kunden wurden kompliziert, Wachstum brach ab. In diesem Geschäft zählt Tempo – und Tempo geht verloren, wenn ein Land sich selbst zur Sperrzone macht. Der Gründer arbeitet nun in Kanada für ein anderes Unternehmen. Der Schaden ist nicht nur sein persönlicher Plan. Es ist eine weitere kleine Verschiebung weg von den USA als Magnet.
Gleichzeitig zeigt sich die soziale Folge, die in Washington gern als Nebensache behandelt wird: Wenn Menschen in einen Schwebezustand gedrängt werden, verschwindet die Arbeit nicht. Sie rutscht ins Informelle. In Lancaster County, Pennsylvania, wo Mennoniten seit langem Geflüchtete unterstützen und wo die Bevölkerung entgegen dem Trend wächst, ist diese Dynamik bereits sichtbar. Die Region hat Myanmar in den Kirchenbänken, kongolesische Beschäftigte in Logistikzentren, nepalesische Restaurants in der Innenstadt. Die örtliche Wirtschaftsförderung sagt offen: Das Wachstum kommt vor allem durch Einwanderer. Wenn nun temporäre Statusformen enden und Verlängerungen unsicher werden, sitzen Menschen fest: nicht arbeiten dürfen, aber auch nicht einfach zurück können – in manchen Länder wie Haiti ist selbst die Rückkehr per Flug erschwert, weil die USA kommerzielle Flüge dorthin nicht zulassen. Die Folge liegt auf der Hand: Manche ziehen in größere Städte, nehmen Gelegenheitsjobs, liefern Essen, putzen, arbeiten in Schattenbereichen. Das ist keine „Ordnung“, das ist ein System, das Risiken verlagert – vom Staat zu den Betroffenen, von Gesetzen zu Grauzonen.
Die Ironie ist, dass diese Entwicklung ausgerechnet dort am härtesten einschlägt, wo Amerika schon lange mit Alterung und Abwanderung kämpft. Pflegeheime, ländliche Krankenhäuser, kleinere Städte – überall wird Personal gebraucht, überall fehlen junge Menschen, überall hängen Zukunftspläne am Zuzug. In Boca Raton, Florida, in einer Senioreneinrichtung, sind etwa die Hälfte der Beschäftigten Einwanderer. Die Leiterin musste bereits 38 Mitarbeitenden aus Kuba, Haiti und Venezuela sagen, dass sie gehen müssen, weil ihre temporären Schutzregelungen gestrichen wurden. Neun Prozent der Belegschaft auf einen Schlag. Sie beschreibt diese Gespräche wie eine Trauerfeier, die nicht aufhört. Und sie sagt: Das sind ihre besten Leute. Man muss diese Aussage nicht romantisieren. Man muss nur verstehen, was sie bedeutet: Wenn ein Land Menschen vertreibt, vertreibt es nicht nur Gesichter. Es vertreibt Kompetenz, Stabilität, Fürsorge.
Am Ende steht ein Satz eines Lokalpolitikers aus Lancaster, selbst als Kind von Geflüchteten gekommen, heute Stadtrat. Er sagt: Das ist erst Jahr eins. Was ist die Zukunft?
Die Zukunft ist in Wahrheit schon da. Man kann sie auf der Baustelle sehen, wo der erfahrene Vorarbeiter fehlt. In der Kita, die eine Kraft verliert. In der Klinik, die keine Fachärzte findet. In der Liga, die keine Teams mehr hat. Im Restaurant, das Personal sucht. In der Kleinstadt, die wieder ein Stück stiller wird. Und in dem Moment, in dem Amerika glaubt, es könne sich selbst genügen, zeigt die Wirklichkeit etwas anderes: Ein Land kann seine Türen schließen. Aber es schließt damit auch Wege, die es lange stark gemacht haben – nicht aus Sentimentalität, sondern aus ganz praktischen Gründen: Arbeit, Pflege, Ideen, Wachstum, Nachbarschaft, Alltag, vielleicht auch in Deutschland.
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