Die Rückkehr der Trillerpfeife und Warnzettel

VonRainer Hofmann

Dezember 17, 2025

Drei kurze Pfiffe. Ein Klopfen an der Wand. Ein handgeschriebener Zettel an der Laterne, ohne Absender, der nach zwei Stunden wieder verschwindet. In Minneapolis, Chicago und vielen anderen amerikanischen Städten organisieren sich Menschen mit Mitteln, die man aus Geschichtsbüchern kennt – nicht als Symbol, sondern als tatsächliche Vorbereitung auf Razzien und Verhaftungen durch die Einwanderungsbehörde ICE.

ICE umstellte Dacharbeiter am 16. Dezember 2025 an einem Einfamilienhaus – bewaffnete Beamte fuchtelten mit Waffen, während sich die Eigentümer noch im Haus befanden. Als die Hausbesitzerin die Haustür öffnete, sah sie Waffen, die ohne jede Vorwarnung auf ihr Haus gerichtet waren – nur wenige Schritte von ihrem Kopf entfernt.

„Das ist dort passiert, wo ich schlafe, in meinem Rückzugsort – es ist krank“, sagte sie. „Ich fühle mich in meinem eigenen Zuhause nicht mehr sicher.“

Die Beamten weigerten sich, mit ihr zu sprechen oder auch nur Fragen dazu zu beantworten, was sie auf ihrem Privatgrundstück taten. Joi Patterson erklärte, die Beamten hätten zwei Dacharbeiter gefesselt und abgeführt – und die laufenden Arbeiten bei eisigen Temperaturen zurückgelassen. Dieser Vorfall ereignete sich im Vorort Amherst bei Buffalo im US-Bundesstaat New York.

Auch die Lage in Minneapolis gleicht aktuell einem Kriegsschauplatz. ICE-Teams sind präsent, kontrollieren vor Wohnhäusern, in der Nähe von Arbeitsplätzen, auf den Straßen. Der Druck ist enorm, die Angst alltäglich. Und dort, wo staatliche Kontrolle zur ständigen Bedrohung wird, entstehen Strukturen, die bewusst auf alles Digitale verzichten. Keine verschlüsselten Nachrichten, keine Apps (ICE kontrolliert mit allen Mitteln diese Apps), keine Cloud-Dienste. Dafür Papier, Geräusche, Zeichen aus Fenstern.

Die Trillerpfeife dient als Sofortalarm. Ein einziger Ton genügt, um eine Straße zu warnen. Klopfzeichen ersetzen Textnachrichten zwischen Nachbarn. Warnzettel werden verteilt, hängen an Eingängen, Bushaltestellen, Straßenlaternen – oft nur für Stunden, manchmal nur für Minuten. Ihr einziger Zweck: Zeit verschaffen. Zeit, um zu verschwinden, sich zu verstecken.

Diese Praktiken haben eine Geschichte, die unangenehm nah ist. Im nationalsozialistischen Deutschland nutzten Menschen ähnliche Mittel, um vor Razzien der Gestapo, vor Hausdurchsuchungen oder vor Verhaftungen zu warnen. Trillerpfeifen, Klopfzeichen, Zettel, Zurufe aus Fenstern – alles Methoden, die schnell funktionierten und keine Spuren hinterließen. Es handelte sich nicht um ein weit verbreitetes Phänomen. Viele schauten weg, andere kollaborierten mit den Behörden. Aber es gab sie: Menschen, die warnten. Die Nachbarn Zeit verschafften. Die das Risiko eingingen, selbst verhaftet zu werden.

Zwei Festnahmen nach Warnungen vor ICE-Razzien – Pfefferspray gegen Bürger eingesetzt

Historiker sprechen von Alltagswiderstand oder sozialer Schutzsolidarität. Keine großen Aktionen, keine öffentlichen Statements. Nur kleine, konkrete Handlungen mit direkter Wirkung. Wer dabei erwischt wurde, landete oftmals im Gefängnis. Dieser Vergleich ist noch keine Gleichsetzung der Systeme. Er beschreibt eine Methode, eine Situation, ein Muster. Damals wie heute greifen Menschen zu analogen Mitteln, wenn digitale Kommunikation als unsicher gilt. Wenn Überwachung zur Realität wird. Wenn Warnung zur Überlebensfrage wird.

Dass solche Systeme überhaupt wieder notwendig werden, sagt mehr über den Zustand eines Landes aus als jede offizielle Verlautbarung. Wenn Bürger anfangen, sich gegenseitig mit Pfeifen und Zetteln vor staatlichen Behörden zu warnen, dann ist etwas grundlegend aus dem Gleichgewicht geraten. Dann funktioniert Schutz nicht mehr über Rechte, sondern über Verstecken. Dann wird Solidarität zur Frage des persönlichen Risikos.

Dass in den USA 2025 wieder mit Trillerpfeifen und Warnzetteln gearbeitet wird, hat einen simplen Grund: Digitale Spuren lassen sich verfolgen. Messenger-Gruppen können überwacht werden. Standortdaten werden gespeichert. Apps können kompromittiert sein. Papier dagegen lässt sich abreißen. Pfeifentöne verhallen, hinterlassen keine Metadaten. Die Trillerpfeife ist zurück.

In eigener Sache
Liebe Leserin, lieber Leser des Kaizen Blog,
genau jetzt, in diesem Moment, sind alle von uns überall an vielen Orten im Einsatz und erleben Geschichte hautnah mit. Möglich ist das auch deshalb, weil Leserinnen und Leser wie Sie verstehen, dass jemand vor Ort sein muss – nicht aus der Ferne berichten, sondern miterleben, dokumentieren, Zeugnis ablegen. Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus, der Menschenrechte verteidigt und rechtspopulistischer Politik widerspricht.
Kaizen unterstützen

Updates – Kaizen Kurznachrichten

Alle aktuellen ausgesuchten Tagesmeldungen findet ihr in den Kaizen Kurznachrichten.

Zu den Kaizen Kurznachrichten In English
Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
0 Comments
Älteste
Neueste Meistbewertet
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
0
Deine Meinung würde uns sehr interessieren. Bitte kommentiere.x