Ostbelgien zeigt, was Politik sein könnte – wenn man Menschen wirklich beteiligt

VonRainer Hofmann

November 23, 2025

In Eupen, der kleinen Hauptstadt der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, trifft sich an Samstagen eine Gruppe ganz normaler Bürgerinnen und Bürger, um über Themen zu beraten, die sonst in politischen Ausschüssen stecken bleiben. Ein Lastwagenfahrer, eine Physiotherapeutin, eine Laborassistentin – Menschen, deren Alltag nichts mit Parteipolitik zu tun hat, aber alles mit den Fragen, die das öffentliche Leben prägen. Sie sitzen im weißen Parlamentsgebäude, sprechen über Renten, Schulen, Pflege und darüber, wie man Entscheidungen findet, die einer ganzen Region gerecht werden.

Auf dem Boden ausgelegte Zettel markieren die zentralen Themen, über die an diesem Tag gesprochen wird.

Dieses Modell gibt es seit sechs Jahren, und es ist nicht irgendein Versuch: Ostbelgien war die erste Region weltweit, die einen dauerhaft verankerten Bürgerrat geschaffen hat. Jedes Jahr gehen rund 1.500 Briefe an zufällig ausgewählte Einwohner, und etwa dreißig von ihnen werden Teil der Versammlung. Die Teilnahmequote liegt bemerkenswert hoch – deutlich höher als in vielen vergleichbaren Projekten in anderen Ländern. Die Menschen kommen über mehrere Wochen zusammen, hören Experten an, beraten, streiten, wägen ab – und geben dem Parlament Empfehlungen, die ernst genommen werden müssen. Viele wurden bereits umgesetzt: strengere Handyregeln an Schulen, neue Regeln für Pflegeheime, bessere Unterstützung für Berufe, die dringend Nachwuchs brauchen.

Ehemalige Teilnehmende berichten, dass sie heute deutlich besser nachvollziehen können, wie Gesetzgebung funktioniert.

Die Wirkung ist greifbar. Isabelle François, eine junge Lehrerin, kam als Skeptikerin und ging als jemand, der zum ersten Mal verstand, warum politische Entscheidungen oft so langsam entstehen. Sie sah, wie wertvoll es ist, Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebenswegen an einen Tisch zu bringen. Das veränderte nicht nur ihren Blick – sie kandidierte sogar bei den Lokalwahlen. Auch wenn sie nicht gewann, hat sie etwas gefunden, das ihr vorher fehlte: Vertrauen. Viele in Ostbelgien berichten Ähnliches. Michaela Rothkrantz, eine Hausangestellte, hatte nie gewählt, bis sie selbst Teil der Versammlung wurde. Danach ging sie zur Wahlurne – und sah später, wie ihre Vorschläge zur Digitalisierung umgesetzt wurden. „Das macht mich wirklich stolz“, sagte sie. Ein Satz, den man in Zeiten verbreiteter Politikverdrossenheit kaum noch hört.

Natürlich hat das Modell Grenzen. Die Bürgerversammlungen befassen sich nicht mit Themen, die in Brüssel entschieden werden, und heikle Fragen wie Einwanderung stehen nicht auf der Tagesordnung. Und manche Teilnehmende fragen sich, ob Moderatoren Diskussionen abbrechen, sobald heikle Punkte berührt werden. Doch selbst diese Kritik zeigt, wie ernst die Menschen ihre Rolle nehmen. Dass der sogenannte Bürgerrat – also das Gremium, das Themen für die Versammlungen auswählt – ebenfalls aus gelosten Bürgern besteht, stärkt zusätzlich das Gefühl, dass hier nicht von oben gesteuert wird, sondern dass die Agenda wirklich aus der Gesellschaft kommt. Der Ministerpräsident von Ostbelgien, Oliver Paasch, sagt, dass Politik nur dann Vertrauen zurückgewinnen kann, wenn sie etwas abgibt. „Wenn wir wollen, dass die Bürger mehr Vertrauen in uns haben, müssen wir als Politiker auch mehr Vertrauen in die Bürger setzen“, betont er. In einer Zeit, in der extrem rechte Parteien in vielen Ländern aus Unzufriedenheit Kapital schlagen, wirkt dieser Satz wie eine nüchterne Erinnerung daran, dass Demokratie nicht nur in Wahlkabinen existiert.

Das Experiment aus Eupen hat keine Weltrevolution ausgelöst. Aber es hat etwas geschafft, das selten geworden ist: Menschen spüren, dass ihre Stimme nicht nur gehört, sondern gebraucht wird. Und vielleicht ist das genau der Weg, den Gesellschaften suchen, wenn sie ihre Politik wieder näher an das Leben derer bringen wollen, die sie tragen sollen.

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