Selenskyj steht in Kiew vor Journalisten, doch die eigentliche Frage hängt längst schwer über der Stadt: Wie tief reicht dieser neue Korruptionsskandal wirklich? Die Rücktritte der Minister, die Entlassung halber Führungsebenen, die Millionen, die verschwunden sein sollen – all das trifft ein Land, das jeden Tag um seine Existenz kämpft. Und während die Front unter russischem Beschuss ächzt, wächst in Europa die Ungeduld. Die Partner wollen Antworten, klare Schnitte, keine Ausflüchte. Der Druck kommt nicht leise daher.

Als Friedrich Merz am Donnerstag anrief, formulierte er kaum verhüllt, was inzwischen Konsens in Brüssel, Berlin und Paris ist: Die Ukraine bekommt Unterstützung – aber nicht bedingungslos. Der Kanzler betonte „energische Schritte gegen die Korruption“ und die Erwartung, dass das Land beim Rechtsstaat endlich dort landet, wo es längst sein müsste. Selenskyj versprach Transparenz, Stabilität für die Anti-Korruptionsbehörden, schnelle Maßnahmen, um das Vertrauen zurückzugewinnen, das gerade dabei ist zu erodieren. Gleichzeitig versucht die EU, das politische Beben einzuordnen, ohne die ukrainische Regierung öffentlich zu demütigen. Ein Sprecher der Kommission in Brüssel erklärte, dass die Enthüllung des mutmaßlichen Schmiergeldsystems ein Zeichen dafür sei, dass die Kontrollorgane funktionierten. Eine Botschaft zwischen Mahnung und Rückendeckung: Die Ukraine hat ein Problem – aber sie hat auch Strukturen, die es ans Licht holen. Doch der Umfang der Affäre ist gewaltig. Der Justizminister und der Energieminister sind bereits weg, nur der erste Stein in einer Kette von Entlassungen, die sich durch Enerhoatom (Ukrainische Atomenergie-Gesellschaft) gezogen hat – jene staatliche Nuklearbehörde, die im Fokus der Ermittlungen steht. Finanzchef, Rechtschef, Beschaffungschef, ein Berater – alle entlassen. Russland bombardiert fast täglich das Stromnetz, das Land erlebt Stromabschaltungen, Reparaturkolonnen arbeiten an der Belastungsgrenze. Dass mitten in dieser Lage ein Korruptionsring gewütet haben soll, wirkt wie ein Schlag ins Gesicht.
Julija Swyrydenko, die Premierministerin, formulierte es ungewohnt scharf: In einer Zeit, in der Russland das Energienetz täglich zerschlägt, sei „jede Form von Korruption unannehmbar“. Die Botschaft war unmissverständlich: Wer jetzt noch kassiert, während das Land brennt, stellt sich außerhalb der Gemeinschaft. Die Ermittlungen selbst haben eine Figur in den Mittelpunkt gedrängt, deren Name Sprengkraft besitzt: Tymur Minditsch, ein Mitgründer von Selenskyjs früherer Produktionsfirma. Ermittler halten ihn für den möglichen Drahtzieher. Sein aktueller Aufenthaltsort: unbekannt. Und im politischen Zentrum Kyjiws macht sich ein Gedanke breit, den lange niemand aussprechen wollte: Wie nah kamen sich Politik, Entertainment, Geschäft und Regierung in jenen Jahren wirklich? Und wer wusste, was da lief?
Europa versucht derweil, das Gleichgewicht zu halten. Ursula von der Leyen kündigte eine weitere Kredittranche von sechs Milliarden Euro an – ein klares Signal, dass Brüssel die Ukraine nicht fallen lässt. Gleichzeitig stellte sie klar, dass Europa bereit sei, die ukrainischen Finanzen notfalls über eingefrorenes russisches Vermögen, über neue Schulden oder über nationale Beiträge zu stabilisieren. Putin, so von der Leyen, glaube noch immer, den Westen „auszuhungern“. Ein Irrtum, wie sie sagte. Während sich die Regierung gegen den Skandal stemmt, zieht der Krieg weiter seine Schneisen. General Oleksandr Syrskyj fuhr nach Pokrowsk, dort, wo ukrainische Truppen in Straßenkämpfen versuchen, eine Einkesselung zu verhindern. Seine Botschaft: Die Stadt steht, und sie wird nicht fallen. In Wahrheit aber ist es ein Ringen um jeden Häuserblock, jede Zufahrtsstraße, jeden Versorgungskorridor.
Parallel dazu meldete der Generalstab den Einsatz einer neuen ukrainischen Langstreckenrakete, der FP-5 – einem Geschoss, das 3.000 Kilometer weit fliegen kann und eine Sprengladung trägt, die größer ist als die vieler Marschflugkörper der NATO. Dass die ersten Testmodelle rosa waren und den Spitznamen „Flamingo“ erhielten, wirkt heute wie ein makabrer Zufall. Die Ziele, die die Raketen jetzt treffen, sind alles andere als verspielt: Öllager, Radarstationen, Drohnenlager, Kommandoposten – in der Krim, im Süden, teilweise tief im russisch besetzten Gebiet. Doch hinter allen militärischen Erfolgen bleibt dieser politische Schatten, der sich über Kyjiw gelegt hat. Ein Land, das um seine territoriale Existenz kämpft, kann sich keinen Korruptionsskandal leisten, der das Vertrauen im eigenen Land und in Europa beschädigt. Genau deshalb ist dieser Fall mehr als nur eine Fußnote. Er ist ein Stresstest für Selenskyj – und für das Versprechen, dass die Ukraine nicht nur gegen einen äußeren Feind kämpft, sondern auch gegen die inneren Strukturen, die sie über Jahrzehnte geschwächt haben.
Am Ende entscheidet sich an dieser Krise etwas Grundsätzliches: Ob die Ukraine die politische Reife besitzt, die Europa von ihr erwartet – und ob Selenskyj die Kraft hat, ein System aufzubrechen, das zu lange überlebt hat. Der Krieg erklärt vieles, aber er entschuldigt nicht alles. Die nächsten Schritte werden zeigen, ob dieses Land bereit ist, nicht nur seine Grenzen zu verteidigen, sondern auch seine Integrität.
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Ich hoffe, da wird aufgeräumt und es schadet der Ukraine nicht zu sehr.
👍
Zunächst danke für eure Arbeit.
Der „flamingo“ ist allerdings keine Langstreckenrakete, sondern ein Marschflugkörper, ähnlich wie der „Taurus“.
Vielen Dank, doch der Flamingo, also die FP-5, ist eine Langstreckenrakete, sie fliegt hohe oder variable Bahnen auf strategische Infrastruktur, eben nicht in den tiefen Bahnen