Die Tränen von Cicero

VonRainer Hofmann

November 12, 2025

Cicero, Illinois – Der Morgen begann wie ein gewöhnlicher Tag. Rafael Veraza, 33, war mit seiner Frau und seiner einjährigen Tochter auf dem Weg zu Sam’s Club, einem Großmarkt westlich der Stadtgrenze von Chicago. Wenige Minuten später lag Pfefferspray in der Luft (siehe Video), das Schreien von Menschen auf dem Asphalt, und ein Asthmatiker rang mit brennender Lunge nach Luft, während sein Kind im Rücksitz nach Atem schnappte.

„Er sprühte von vorn nach hinten über das ganze Auto“, sagt Veraza. „Ich wurde voll ins Gesicht getroffen.“ Das Handyvideo, das er später zeigte, ist verwackelt, aber die Panik darauf ist unübersehbar. „Ich bin Asthmatiker. In dem Moment konnte ich nicht mehr atmen“, sagt er. Seine Tochter Arianna, kaum ein Jahr alt, habe das Gas ebenfalls eingeatmet. Beide wurden kurzzeitig ins Krankenhaus gebracht. „Meine Tochter versuchte, ihre Augen zu öffnen. Sie kämpfte um Luft.“

Die US-Grenzschutzbehörde (Border Patrol) bestätigt den Vorfall nicht – im Gegenteil: Das Heimatschutzministerium veröffentlichte eine Erklärung, die alles dementiert. „Nein“, schrieb Tricia McLaughlin, Sprecherin des Ministeriums, „es wurde weder Pfefferspray noch ein Mittel zur Menschenkontrolle auf einem Sam’s-Club-Parkplatz eingesetzt.“ Gleichzeitig aber listete sie in demselben Statement auf, dass in Chicago am Wochenende auf Einsatzkräfte geschossen, Ziegel geworfen, Fahrzeuge gerammt und Beamte attackiert worden seien.

Nach Angaben des DHS waren die Grenzschutzbeamten in das Viertel Little Village gefahren, um eine „Menschenmenge zu kontrollieren“. Wie das aussieht,00 wissen wir und haben es oft genug live erlebt. Dort, so die Darstellung der Behörde, seien Schüsse aus einem schwarzen Jeep Wrangler gefallen – direkt auf die Beamten. Wenig später hätten diese sich in einen Konvoi zurückgezogen, verfolgt von wütenden Anwohnern. Auf dem Parkplatz von Sam’s Club in Cicero sei ein Auto in ein Einsatzfahrzeug gerammt worden, danach habe man sich erneut zurückgezogen. „Nach dem Verlassen des Parkplatzes wurde der Konvoi erneut angegriffen“, heißt es in der Mitteilung. Eine Scheibe sei zerbrochen, Fotos davon legte das Ministerium nach. Siehe auch unseren Artikel unter: https://kaizen-blog.org/ein-morgen-in-little-village-schuesse-pfefferspray-und-ein-kind-in-der-brutalitaet-der-operation-midway-blitz/

Keine Erklärung aber, warum Veraza und seine Familie – die nur den Parkplatz verlassen wollten – inmitten dieses Chaos mit Pfefferspray besprüht wurden. „Ich hab nichts getan“, sagt Veraza. „Ich wollte einfach rausfahren.“

Der Kongressabgeordneter Jesús „Chuy“ García, der Veraza begleitete, sprach von einer „Kampagne des Terrors gegen Chicago“. García appellierte zugleich an die Menschen, ruhig zu bleiben und alles zu dokumentieren: „Ich verstehe die Wut, ich verstehe, wie viele sich fühlen. Aber wenn wir der Gewalt nachgeben, verlieren wir unseren Kampf. Dann geht unsere Botschaft unter.“ Das DHS blieb bei seiner Linie: Die Protestierenden seien „Randalierer“. Neun Personen seien festgenommen worden, acht davon US-Bürger. Ob Anklagen erhoben wurden, blieb offen. In einer ausführlichen Stellungnahme am Nachmittag schrieb das Ministerium, die Border Patrol sei in Little Village „während einer Einwanderungsoperation“ angegriffen worden. Ein Mann in einem schwarzen Jeep habe „mehrere Schüsse“ abgefeuert, es seien Ziegel und Farbdosen von Dächern geworfen worden. Die Beamten seien von „gewalttätigen Mobs“ umzingelt gewesen, die Fahrzeuge beschädigt und mehrfach gerammt hätten. Niemand sei verletzt worden, hieß es, aber man habe neun Personen festgenommen – und die Eskalation auf „Sanctuary-Politiker und die Medien“ zurückgeführt.

McLaughlin legte nach: „J. B. Pritzker und Brandon Johnson haben ein Klima der Gesetzlosigkeit geschaffen und Angriffe auf Bundesbeamte begünstigt. In weniger als drei Stunden sah sich die Border Patrol mit Schüssen, gewalttätigen Mobs, Ziegelwürfen und vier Fahrzeugattacken konfrontiert. Diese Gewalt ist das Ergebnis der Hetze lokaler Politiker und der Medien. Letzte Woche wurden unsere Beamten fälschlich beschuldigt, eine Kindertagesstätte gestürmt zu haben – jetzt herrscht Schweigen, obwohl sie unter Beschuss geraten.“ Und dann der Satz, der seither in Chicago zitiert wird: „An alle Antifa-Terroristen in Chicago: Ihr werdet uns nicht aufhalten. Wer Hand an einen Beamten legt, wird die Konsequenzen spüren.“ Trump hatte bereits im September angeordnet, die lose organisierte Antifa-Bewegung offiziell als inländische Terrororganisation einzustufen – ein Schritt, der von Juristen als verfassungswidrig kritisiert wird. Antifa ist kein Verband, sondern ein Sammelbegriff für antifaschistische Gruppen, die rechtsextreme und rassistische Demonstrationen konfrontieren.

Chicagos Bürgermeister Brandon Johnson mit einer eigenen Erklärung – nüchtern, aber unmissverständlich. „Die jüngste Eskalation gewaltsamer föderaler Einwanderungseinsätze gefährdet die Sicherheit aller Einwohner Chicagos“, schrieb er. „Ihr rücksichtsloses Verhalten und der wahllose Einsatz chemischer Mittel haben in unseren Gemeinden Chaos und Angst ausgelöst. Ich lehne dieses Vorgehen entschieden ab, verurteile aber ebenso jede Form von Gewalt gegen die Beamten.“

Johnson verwies auf Berichte des DHS über einen angeblichen Schuss auf einen Bundesbeamten, erinnerte zugleich aber an ein kürzliches Urteil eines Bundesgerichts, das Einwanderungsbeamten „fehlende Glaubwürdigkeit“ bescheinigte – sowohl in der Darstellung ihrer eigenen Handlungen als auch jener der Bewohner Chicagos. „Ich habe Superintendent Snelling um einen vollständigen Bericht über die Präsenz der CPD während der Einsätze gebeten, um sicherzustellen, dass wir im Einklang mit unserer Welcoming City Ordinance handeln“, so Johnson. Dabei wurde auch ein Polizeibeamter verletzt, als ein Fahrzeug in eine Sperre fuhr. „Gewalt gegen Polizisten ist inakzeptabel und wird von mir aufs Schärfste verurteilt.“ Dann wandte sich Johnson direkt an die Menschen in Little Village: „An unsere Bewohnerinnen und Bewohner, die in dieser Zeit Unterstützung und Schutz leisten: Dokumentiert, was geschieht. Informiert eure Nachbarn über ihre Rechte. Und bleibt in sicherer Entfernung zu den Bundesbeamten.“ So endet ein Tag, an dem ein Vater versuchte, seiner Tochter die Augen zu öffnen, während eine Regierung versuchte, die Schuld zu verschieben. Ein Pfefferspraystoß auf einem Parkplatz – und ein Land, das längst vergessen hat, dass seine Verfassung nicht nur in Washington gilt.

Auch wenn unsere Recherchen oft bedrückende Bilder und Details ans Licht bringen, wäre es falsch, sie zu verschweigen. Gerade im Blick auf Europa zeigt sich, dass sich viele der politischen Entwicklungen der USA bereits abzeichnen – manchmal leiser, aber ebenso folgenschwer. Unsere Beiträge wollen genau das sichtbar machen: dass man Rechtspopulismus nicht erst dann bekämpfen kann, wenn er Realität geworden ist, sondern ihm frühzeitig mit Klarheit, Fakten und seinen eigenen Bildern entgegentreten muss – um vielleicht zu verhindern, dass solche Bilder eines Tages auch in Europa entstehen.

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