Ein Morgen in Chicago – Wenn ein Kindergarten zum Tatort wird

VonRainer Hofmann

November 5, 2025

Chicago – Es war kurz nach sieben Uhr morgens, die Kinder liefen lachend durch die Glastüren des Rayito de Sol Spanish Immersion Early Learning Center, ein zweisprachiger Kindergarten im Norden der Stadt, als plötzlich schwarze SUVs auf den Parkplatz rollten. Sekunden später rannte eine Frau, Diana Patricia Santillana Galeano – eine Erzieherin – aus einem Fahrzeug in Richtung Eingang. Hinter ihr Männer mit kugelsicheren Westen, auf denen in großen weißen Buchstaben stand: POLICE ICE. Noch bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, wurde sie festgesetzt – zwischen zwei Glasfronten, vor den Augen der Kinder.

Die Frau rief, sie habe Papiere, sie sei legal hier. Doch die Beamten ließen sie nicht los. Sie führten sie ab, während Eltern, die gerade ihre Kinder absetzten, schockiert zusahen. Es war ein Moment, der sich in die kollektive Erinnerung dieser Stadt einbrennen dürfte – nicht nur, weil er sich vor einem Kindergarten abspielte, sondern weil er sinnbildlich steht für das, was die Trump-Regierung derzeit unter „Rechtsdurchsetzung“ versteht. Der Vorfall ereignete sich im Rahmen von „Operation Midway Blitz“, einer der aggressivsten Abschiebekampagnen seit Jahren. Seit Anfang September wurden in der Region Chicago mehr als 3.000 Menschen festgenommen. Hubschrauber-Einsätze, nächtliche Razzien, Tränengas bei Protesten – selbst für amerikanische Verhältnisse ist die Härte der Einsätze ungewöhnlich. Und jetzt: ein Kindergarten.

Der demokratische Stadtrat Matt Martin bestätigte, dass mehrere Augenzeugen übereinstimmend berichteten, die Frau sei direkt vor den Kindern verhaftet worden. „Sie wurde im Eingangsbereich festgehalten, während sie erklärte, dass sie über gültige Papiere verfüge“, sagte Martin. Auf Aufnahmen, die sich inzwischen in den sozialen Netzwerken verbreiten, ist zu sehen, wie mindestens ein Beamter eine Weste mit der Aufschrift ICE trägt, während die Lehrerin abgeführt wird. Das Heimatschutzministerium (DHS) versuchte den Vorgang zu rechtfertigen. Tricia McLaughlin, stellvertretende Ministerin für Öffentlichkeitsarbeit, schrieb auf X: „ICE hat keine Kindertagesstätte ins Visier genommen. Die Beamten wollten ein Fahrzeug stoppen, das einer illegalen Einwanderin aus Kolumbien gehörte. Der Fahrer weigerte sich, anzuhalten.“ Doch die offizielle Darstellung steht im Widerspruch zu den Beobachtungen vor Ort. Laut mehreren Eltern und Recherchen, betraten die Beamten das Gebäude ohne Durchsuchungsbefehl, gingen durch mehrere Räume und befragten Mitarbeitende, während Kinder anwesend waren.

„Sie sind nicht einfach einer Person gefolgt – sie sind in mehrere Klassenzimmer gegangen, während Kinder da waren“, sagte die demokratische Kongressabgeordnete Delia Ramirez. Ihr Kollege Mike Quigley ergänzte, die Frau habe eine gültige Arbeitserlaubnis besessen. Das Rayito de Sol, das acht Einrichtungen in Illinois und Minnesota betreibt, blieb am Mittwoch geschlossen.

Diana Patricia Santillana Galeano

Vor dem Gebäude, eingezwängt zwischen Zahnarztpraxen in einem kleinen Einkaufszentrum, versammelten sich Eltern – fassungslos, wütend, hilflos. Maria Guzman und ihr Mann Sergio Rocha hielten sich im Arm. „Unsere Gemeinschaft wird jeden Tag angegriffen“, sagte sie. „Diese Frau hat kleine Kinder unterrichtet. Diese Kinder verdienen es nicht, das mitzuerleben. Niemand verdient das.“ Esmeralda Rosales, deren neun Monate altes Kind dort betreut wird, eilte von der Arbeit zurück. „Das sind die freundlichsten, herzlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann“, sagte sie. „Diese Kinder sollten lachen, spielen, lernen – nicht sehen, wie ihre Lehrerin von bewaffneten Männern abgeführt wird.“

Chris Widen, dessen vier Monate altes Kind ebenfalls von der festgenommenen Lehrerin betreut wird, sprach von einem „verheerenden Moment“. „Die Beamten kamen genau zur Stoßzeit – als Eltern und Kinder eintrafen. Die Kinder mussten zusehen, wie ihre Lehrerin gewaltsam abgeführt wurde.“ Adam Gonzalez, der gerade sein Kind absetzte, begann zu filmen. „Ich wollte, dass die Welt sieht, was hier passiert – dass das echt ist, kein Fake“, sagte er. „In Chicago trennen uns vielleicht noch ein oder zwei Ecken von jemandem, der so etwas schon erlebt hat.“

Maria Guzman und Sergio Rocha, Eltern kleiner Kinder, standen sich weinend in den Armen vor dem Rayito de Sol Spanish Immersion Early Learning Center, nachdem Bundesbeamte am 5. November 2025 die Erzieherin, Diana Patricia Santillana Galeano, der Einrichtung abgeführt hatten.

Am Ende dieses Morgens blieb ein leerer Klassenraum, verstörte Kinder und ein Stadtviertel, das sich fragt, was aus dem Versprechen geworden ist, Schutz zu bieten, nicht Angst zu säen. Der leitende Grenzschutzbeamte Gregory Bovino, einer der Köpfe hinter der neuen Abschiebestrategie, verteidigte die Aktion trotz wachsender Kritik. „Ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm werden würde – aber es ist schlimmer, als ich mir vorgestellt habe“, sagte er in einem Interview Anfang der Woche. Seine Beamten nannte er „Sanctuary Busters“ – eine zynische Anspielung auf Städte wie Chicago, die sich als Zufluchtsorte für Migranten verstehen. Diana Patricia Santillana Galeano hat inzwischen rechtlichen Beistand, und es wird alles getan, um ihr zu helfen. Wir hoffen, dass sie in den kommenden Stunden wieder freigelassen wird.

Doch was in Chicago an diesem Morgen geschah, war kein politischer Begriff. Es war eine Szene aus dem Alltag einer Regierung, die den Ausnahmezustand zur Regel gemacht hat. Eine Frau, ein Kindergarten, eine Tür aus Glas – und eine Nation, die sich langsam daran gewöhnt, dass selbst das Unvorstellbare zu ihrem Alltag gehört.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
5 Comments
Älteste
Neueste Meist bewertet
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Esther
Esther
15 Stunden zuvor

Unfassbar….!
Wann werden diese kriminellen Brutalos endlich gestoppt…? 🔥🔥🔥

Ela Gatto
Ela Gatto
13 Stunden zuvor

Das war ganz gezielt geplant.
So eine Aktion im Kindergarten verbreitet das Maximum an Angst.

Unglaublich wie niederträchtig diese willfähigen Helfer sind.
Haben die keine Kinder? Wäre es ihnen egal, wenn sie derart traumatisiert werden?

Ich wünsche Miss Galeano von Herzen alles Gute.

Danke, dass Ihr Euch dieser Stories annehmt.

Helga M.
Helga M.
4 Stunden zuvor

Und dann womöglich ein Friedenspreis von der so verachtenswerten FIFA. Pfui. Die arme Frau, und die Kinder und Eltern erst!😢😡 Auf einen groben Klotz oder grobe Klötze gehört unmissverständlich ein noch viel gröberer Keil.😡😡😡

5
0
Über ein Kommentar würden wir uns freuen.x