In Portland, einer Stadt, die in den letzten Monaten zum Brennpunkt amerikanischer Verfassungsfragen geworden ist, betrat am 7. Oktober eine Frau das ICE-Gebäude, deren öffentliche Persona längst mit einem religiösen Mythos überzogen ist. Kristi Noem, Innenministerin der Vereinigten Staaten, trat in Begleitung von Sicherheitskräften in das Detention Center im Südwesten der Stadt – und tat, was sie in Momenten der Inszenierung immer tut: Sie betete.
Benny Johnson, ein rechter Kommentator mit direktem Zugang zur Trump-Administration, postete wenige Minuten später: „Ich habe gerade etwas Bemerkenswertes erlebt… Ministerin Kristi Noem kam im ICE-Gebäude an, und das Erste, was sie tat, war zu beten – für die Sicherheit der Beamten und in Dankbarkeit für ihren Mut.“
Was Johnson als spirituelles Ereignis beschrieb, war in Wahrheit Teil eines Rituals, das längst zur politischen Methode geworden ist. Noem inszeniert sich als Verkörperung einer göttlichen Ordnung – als Hüterin eines Glaubens, der nichts mehr mit Religion zu tun hat, sondern mit Herrschaft. Sie betet nicht aus Mitgefühl, sondern als Signal. Ihre Gebete gelten nicht Gott, sondern der Macht.
Der Blick von den umliegenden Dächern, aufgenommen von ihren eigenen Leuten, zeigte keine Notlage, keinen Aufruhr, keine Bedrohung. Die Umgebung war ruhig. Die Straße leer. Nur Kameras, Beamte, ihre Wagenkolonne. Und doch sprach Noem von „Mut in dunklen Zeiten“ und „göttlicher Führung“. Ihre Worte waren nicht Ausdruck von Empathie, sondern von einem Wahn, der Moral und Kontrolle miteinander verwechselt.
Nach dem Gebet folgte ein Treffen mit dem Polizeichef von Portland, Bob Day. Der Lokalreporter Nick Sorton schrieb anschließend: „Wir erleben Unglaubliches. Noem hat gerade den woken Polizeichef getroffen – und er wirkte völlig niedergeschlagen. Sie hat das Gesetz durchgesetzt. Die Trump-Regierung übernimmt die Kontrolle in Portland.“
Der Ton dieser Sätze ist bezeichnend. „Kontrolle“ und „Glaube“ sind unter dieser Regierung keine Gegensätze mehr. Sie sind Synonyme geworden. Wo früher Recht und Ethik unterschieden wurden, steht nun eine pseudochristliche Autorität, die sich göttlich nennt und in Wirklichkeit zutiefst menschenverachtend ist. Kristi Noem steht exemplarisch für diese Verwandlung – vom politischen Amt zur moralischen Bühne. Ihr Glaube ist kein privates Bekenntnis, sondern eine Ideologie, die alles, was sich ihr widersetzt, als gottlos erklärt. Sie betet in Haftzentren, die Kinder von ihren Eltern trennen, und redet von „Gnade“. Sie rechtfertigt Gewalt mit Bibelzitaten. Sie verwechselt Unterdrückung mit Erlösung. Und sie lächelt dabei, als sei das Himmelreich bereits angebrochen – nur eben exklusiv für jene, die ihr dienen.

Der religiöse Fanatismus, den sie verkörpert, ist keine Randerscheinung. Er ist das moralische Rückgrat der Trump-Regierung. Stephen Miller, Trumps Architekt der Abschiebungsprogramme, teilt denselben Zynismus. Doch in diesen Tagen geschah etwas, das diese Ideologie in ihrem Innersten traf: Seine eigene Cousine, Alisa Kasmer, wandte sich öffentlich gegen ihn.
Kasmer schrieb in einem ergreifenden, sechsteiligen Brief, dass sie nach den ICE-Razzien in Kalifornien unter Panikattacken litt – und dass ihr Schmerz weniger von Politik als von moralischem Entsetzen herrührte. „Ich lebe mit dem tiefen Schmerz, zusehen zu müssen, wie jemand, den ich einmal liebte, zum Gesicht des Bösen geworden ist“, schrieb sie. Ihre Worte sind kein politisches Statement, sondern ein Schrei der Verzweiflung. Sie beschreibt, wie sie nach einer Nacht voller Tränen und Atemnot zu schreiben begann, um nicht zu zerbrechen.

Sie schreibt von einem Land, das reich an Wissen, Technologie und Möglichkeiten sei – und doch im Namen von Ego und Macht an Empathie verhungere. Sie klagt eine Nation an, „deren Privileg auf Grausamkeit und Folter verschwendet wird“, deren Regierung die Schwächsten terrorisiert, um Stärke zu simulieren. „Das ist nicht Zufall“, schreibt sie an ihren Cousin, „das ist dein Werk, Stephen.“

In einer Passage, die kaum deutlicher sein könnte, erinnert Kasmer an ihre gemeinsame jüdische Herkunft – an Familien, die Pogrome und den Holocaust überlebten, an das Gebot, niemals zu vergessen, woher man kommt. „Wir wurden gelehrt, zu erinnern“, schreibt sie. „Wir feierten jedes Jahr mit der Mahnung, aufzustehen und zu sagen: Nie wieder. Aber das, was du tust, bricht dieses heilige Versprechen. Wie kannst du anderen antun, was uns angetan wurde?“ Ihr Text ist ein Dokument innerer Zerrissenheit, zugleich eine moralische Anklage. Sie spricht von Schuld, Scham und dem Versuch, das Unrecht zu benennen, das in ihrem eigenen Familiennamen steckt. „Ich werde das Böse niemals in mein Leben lassen, egal, wessen Blut es trägt – auch nicht mein eigenes“, schreibt sie. Es ist ein Satz, der so schlicht wie radikal ist: Die Absage an Blutsloyalität, an das Erbe der Grausamkeit.
Diese Worte stellen mehr infrage als nur einen Mann. Sie entlarven das Fundament eines Systems, das Religion als Werkzeug der Herrschaft missbraucht. Denn was Noem betet und Miller schreibt, ist im Kern dieselbe Ideologie: die Verwechslung von Glauben mit Gehorsam, von Moral mit Macht, von Opfer mit Stärke. Alisa Kasmer steht diesem System nicht politisch gegenüber, sondern menschlich. Ihre Trauer ist nicht Rhetorik, sondern Wahrheit. Ihr Text ist die stille Gegenstimme zu all den lauten Gebeten, die in Washington gesprochen werden. Wenn sie schreibt: „Das ist nicht Politik. Das ist Menschlichkeit. Es geht um Anstand. Und du hast deinen verloren“, dann ist das der Satz, der dieser Epoche vielleicht am nächsten kommt.
Denn wer Gott wirklich sucht, findet ihn nicht in Inszenierungen wie der von Portland. Nicht in Kameras, nicht in Parolen, nicht in der falschen Andacht einer Frau, die für Kameras betet und für Kinderkäfige regiert. Wahre Spiritualität, wenn es sie in dieser Politik noch gibt, zeigt sich nicht im Befehlston, sondern in der Empathie. Aber genau diese Empathie ist der Feind der neuen Ordnung. Darum braucht sie ihre Gebete – als Waffe, als Schutzschild, als Lüge. „Gott mit uns“ war schon einmal die Inschrift einer Zeit, die glaubte, mit Moral die Unmoral rechtfertigen zu können. Heute trägt sie wieder Uniform, diesmal mit einem Sternenbanner.
Kristi Noem steht in Portland und faltet die Hände. Sie ruft Jesus an, während vor den Toren Menschen protestieren, deren Kinder im Innern hinter Stahlgittern sitzen. Und niemand fragt, welchem Gott sie eigentlich dient. Vielleicht dem der Macht, vielleicht dem der Angst. Vielleicht auch nur sich selbst. Und während sie betet, läuft irgendwo in einem Büro ein Monitor mit. Stephen Miller liest die Schlagzeilen, Trump sieht die Bilder, Benny Johnson jubelt über den „Mut der Ministerin“. Alles wirkt geschlossen, choreografiert, unantastbar. Doch jedes System, das sich unantastbar gibt, hat den ersten Riss schon in sich.
Dieser Riss beginnt nicht auf der Straße, sondern im Glauben. Wenn Menschen erkennen, dass Frömmigkeit ohne Mitgefühl nichts als Theater ist, fällt das Bühnenbild in sich zusammen. Vielleicht wird man sich eines Tages an dieses Gebet in Portland erinnern – als Moment, in dem der Zynismus seinen Höhepunkt erreichte. Und vielleicht auch als Moment, in dem jemand zum ersten Mal leise „Nein“ dachte. Denn jedes Reich, das sich göttlich nennt, endet irdisch. Und jedes Gebet, das Macht rechtfertigt, endet in Stille. In dieser Stille aber könnte etwas Neues entstehen: nicht der Glaube an einen falschen Gott, sondern der Glaube daran, dass Menschlichkeit stärker ist als Inszenierung.
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Oh…das ist ein sehr ergreifender Text von
Alisa Kasmer und so wahr….
Danke für diesen Beitrag!