Die Militarisierung der amerikanischen Städte schreitet voran – und in der Gesellschaft werden die Rufe nach einem Bürgerkrieg immer lauter

VonRainer Hofmann

Oktober 2, 2025

Der Sonntagmorgen in Chicago fühlte sich an wie der Beginn eines dystopischen Traums. Bundesagenten in Tarnuniformen patrouillierten durch die Straßen von River North, einem der belebtesten Touristenviertel der Stadt. Ein Radfahrer rief ihnen etwas zu und floh, als die Agenten ihm hinterherjagen wollten. Es war eine Szene, die man eher aus Kriegsgebieten kennt, nicht aus der drittgrößten Stadt der Vereinigten Staaten.

Nur zwei Tage später, in den frühen Morgenstunden des Dienstags, eskalierte die Situation: Drohnen summten über einem heruntergekommenen Apartmentgebäude auf der South Side. Helikopter kreisten am Himmel, während sich Scharfschützen von ihren Rotorblättern abseilten. Fast 300 Bundesagenten umstellten das Gebäude in einer koordinierten Operation, die mehr an eine militärische Belagerung erinnerte als an eine Strafverfolgungsmaßnahme. „Es fühlte sich an, als wären wir unter Belagerung“, wird Darrell Ballard, ein 63-jähriger Anwohner, später sagen, während er Videos der nächtlichen Razzia auf seinem Handy zeigt.

Dies ist das neue Amerika unter Donald Trump, und Chicago ist zum Testgelände für eine Vision geworden, die die Gründerväter der Nation in ihren schlimmsten Albträumen nicht hätten vorhersehen können.

Der Verrat an einem Gründungsprinzip

Einen Tag zuvor, am Dienstag, den 30. September, stand Präsident Trump vor Hunderten von Militärkommandeuren auf der Marine Corps Base Quantico in Virginia. Seine Worte hallen durch den Raum wie ein Echo aus einer anderen Zeit: „Wir werden diese gefährlichen Städte als Trainingsgelände für unser Militär nutzen.“ San Francisco. Chicago. New York. Los Angeles. Nicht Polen, wo russische Drohnen den NATO-Luftraum verletzen. Nicht die Ostflanke Europas, wo echte Bedrohungen lauern. Nein, amerikanische Städte sollen zum Übungsplatz werden für das, was Trump als „Krieg von innen“ bezeichnet.

Die Ironie dieser Szene entgeht niemandem, der auch nur oberflächlich mit der amerikanischen Geschichte vertraut ist. Alexander Hamilton, einer der Architekten der amerikanischen Verfassung, hatte einst in den Federalist Papers gewarnt: „Die kontinuierliche Notwendigkeit seiner Dienste erhöht die Bedeutung des Soldaten und degradiert proportional den Status des Bürgers. Der militärische Staat erhebt sich über den zivilen.“

Längst in den Zeiten von 1934 angekommen, Donald Trump

Hamilton und seine Zeitgenossen kannten die Geschichte. Sie hatten den englischen Bürgerkrieg studiert, in dem König Charles I. seine Armee gegen das eigene Volk einsetzte. Sie hatten die britische Besatzung der Kolonien erlebt. Und sie schufen bewusst ein System der Gewaltenteilung, das genau solche Szenarien verhindern sollte. Der Posse Comitatus Act von 1878, so problematisch seine Ursprünge auch sein mögen – er wurde erlassen, um Südstaaten zu beschwichtigen, die keine Bundestruppen zum Schutz von Schwarzen Amerikanern wollten –, etablierte dennoch ein fundamentales Prinzip: Das Militär sollte nach außen gerichtet sein, nicht nach innen.

Chicago als Laboratorium der Angst

Was sich in Chicago abspielt, ist mehr als nur eine Einwanderungsrazzia. Es ist die systematische Verwischung der Grenzen zwischen militärischer und ziviler Gewalt, zwischen Kriegsführung und Strafverfolgung. Die „Operation Midway Blitz“, wie die Trump-Administration sie nennt, hat seit Anfang September über 800 Menschen verhaftet. Doch die Zahlen erzählen nur einen Teil der Geschichte.

Die nächtliche Razzia auf das Apartmentgebäude, angeblich ein Treffpunkt der Tren de Aragua Gang, offenbart die neue Normalität: Scharfschützen, die sich von Helikoptern abseilen, Drohnen, die über Wohngebieten kreisen, fast 300 Agenten für eine einzelne Operation. Die Behörden sprechen von 37 Verhaftungen, darunter vier US-amerikanische Kinder, die später an Vormunde übergeben wurden.

Doch was rechtfertigt diesen massiven Einsatz? Die Kriminalstatistiken zeichnen ein anderes Bild von Chicago als das, welches Trump malt. Die Mordrate ist in den letzten vier Jahren um fast 50 Prozent gesunken. Schießereien, Raubüberfälle, Einbrüche und Autodiebstähle sind zweistellig zurückgegangen. Die Stadt, die Trump als „Kriegsgebiet“ bezeichnet, erlebt tatsächlich einen dramatischen Rückgang der Gewaltverbrechen.

Vor den Toren der ICE-Einrichtung im Vorort Broadview, Illinois, eskalierte eine Protestaktion zu einer Szene, die in den USA das Fass fast zum Überlaufen brachte. Eine Frau stellte sich einem ausfahrenden Van in den Weg, wurde weggestoßen, stürzte zu Boden – doch die Situation endete nicht dort. Augenblicke später packte ein ICE-Beamter ihren Arm, legte den anderen um ihren Hals und zog den Griff mit voller Wucht zu, bevor er sie schließlich losließ und in Handschellen abführen ließ. Die Bilder dieses Würgegriffs verbreiteten sich rasend schnell und trafen auf eine ohnehin aufgeheizte Stimmung, in der viele das Vorgehen der Behörden nicht mehr als Sicherheitseinsatz, sondern als brutalen Einschüchterungsversuch gegen Zivilisten wahrnahmen.

Governor JB Pritzker findet deutliche Worte: „Stiefeltruppen durchstreifen ein friedliches Stadtzentrum.“ Eltern hätten Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken, kleine Unternehmen litten. „Verlassen Sie Chicago“, sagt er an die Adresse der Bundesregierung. „Sie helfen uns nicht.“

ALLE SIND HIER WILLKOMMEN – AUSGENOMMEN I.C.E.
Wir haben das Recht, I.C.E. den Zugang zu privaten Bereichen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl zu verweigern. – Wir berufen uns auf unsere verfassungsmäßigen Rechte – die für alle Menschen in diesem Land gelten, unabhängig vom Einwanderungsstatus – in diesem Betrieb. – Mitglieder unserer Gemeinschaft sind hier sicher. Jede Form von Belästigung von Gästen oder Mitarbeitenden wird nicht toleriert. – (Kleines Logo unten links: „Kenne deine Rechte“ – ILRC, Immigrant Legal Resource Center)

Die Reaktion der Anwohner spiegelt eine tiefe Verunsicherung wider. Chuck Mackie, ein 68-jähriger Marketingautor aus dem Norden Chicagos, sieht einen graduellen Aufbau von ICE-Aktivitäten, der die Öffentlichkeit bewusst konditionieren soll. „Es ist ein kontinuierlicher Abbau von Normen und verfassungsmäßigen Schutzrechten“, sagt er. Mona Obregon-Cech, eine 70-jährige pensionierte Krankenhausverwalterin, warnt: „Die Menschen müssen studieren und sehen, wie Dinge in der Vergangenheit in anderen Ländern passierten.“

Die Generäle schweigen

Zurück in Quantico, wo Trump vor den versammelten Militärführern spricht, herrscht eine bemerkenswerte Stille. Wo sind die Stimmen eines Jim Mattis oder Mark Esper, die während Trumps erster Amtszeit noch Widerstand leisteten? Als Trump damals 10.000 bis 15.000 Soldaten an die Südgrenze schicken wollte, reagierte Mattis mit der Entsendung von 6.000 Nationalgardisten – mit strikten Anweisungen, nur unterstützende Rollen zu übernehmen. Als Trump die 82. Luftlandedivision während der Proteste für soziale Gerechtigkeit auf die Straßen schicken wollte, berief Esper eine Pressekonferenz ein, um seine Opposition zu verkünden. Er wurde dafür gefeuert.

Diese Männer sind jetzt weg. Die neue Militärführung hat entweder Trumps Wünsche verstärkt oder sich ihnen gebeugt. Auch die Opposition im Kongress, die Trump während seiner ersten Amtszeit blockierte, ist verschwunden. Die Republikaner kontrollieren beide Kammern und haben allen Direktiven und Ernennungen Trumps zugestimmt, die das amerikanische Militär betreffen. Das Ergebnis ist erschütternd: Nationalgardisten in Washington gegen den Willen der gewählten Stadtführung. Aktive Marines nach Los Angeles entsandt trotz der Proteste von Bürgermeister und Gouverneur. Bücher von farbigen Autoren, einschließlich Maya Angelous „I Know Why the Caged Bird Sings“, aus der Bibliothek der U.S. Naval Academy verbannt. Eine Pentagon-Führung, die sich weigert, dekorierte Kampfsoldaten zu befördern, die unter Männern dienten, die Trump nicht mag. Ein Plan, Militärjuristen als Einwanderungsrichter einzusetzen.

Major General Paul D. Eaton, ein pensionierter Irak-Kriegsveteran, bringt die internationale Dimension auf den Punkt: „Wenn ich der Anführer des polnischen Militärs wäre und wir russische Übergriffe auf NATO-Gebiet hätten, und ich sähe 800 amerikanische Generäle und Admirale in einem Auditorium sitzen und dieser Rede zuhören – nun, das würde mich ärgern. Nimmt das amerikanische Militär seine Aufgabe ernst?“

Das Vermächtnis von Ulysses S. Grant

Die Geschichte bietet eine bemerkenswerte Parallele. Nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Ermordung Abraham Lincolns stand Amerika an einem Scheideweg. Präsident Andrew Johnson, feindselig gegenüber ehemaligen Sklaven und für nachsichtigere Politik gegenüber den Südstaaten, geriet in Konflikt mit dem Kongress, der die Rechte der ehemaligen Sklaven ausweiten wollte. Johnson befürchtete, dass Ulysses S. Grant – der populärste General des Landes, der Mann, dem der Sieg im Bürgerkrieg zugeschrieben wurde – sich auf die Seite des Kongresses stellen würde. Er versuchte, Grant auf eine diplomatische Mission nach Mexiko zu schicken. In einer angespannten Kabinettssitzung weigerte sich Grant mit der Begründung, dass er als Militäroffizier nur militärische Befehle des Präsidenten ausführe.

Als Grant schließlich vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses aussagen musste, das ein Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson erwog, traf er eine Entscheidung, die die amerikanische Militärtradition für die kommenden 150 Jahre prägen sollte: Er stellte sich auf die Seite des Kongresses und des Gesetzes, nicht auf die Seite des Präsidenten. „Als er gezwungen wurde, traf er die demokratischste Wahl in der fundamentalsten Frage“, erklärt Kori Schake, eine ehemalige Verteidigungsbeamtin in der Bush-Administration. „In Friedenszeiten ist die Autorität des Kongresses in Militärangelegenheiten vorrangig.“

Ulysses S. Grant

Grants Beispiel etablierte eine Norm, die bis heute – oder zumindest bis gestern – Bestand hatte: Während des aktiven Dienstes dient man nicht einer politischen Partei, sondern dem Gesetz des Landes. Diese Norm wird nun systematisch demontiert. Als Trump in Quantico sagt: „Sie werden niemals vier Jahre sehen wie die, die wir mit Biden und dieser Gruppe inkompetenter Menschen hatten, die dieses Land regierten und niemals hätten dort sein sollen“, bricht er mit der Tradition der überparteilichen Ansprache an das Militär. Wenn er verspricht, mit den Führern in diesem „schönen Raum“ werde man „jede Gefahr besiegen und jede Bedrohung unserer Freiheit zermalmen“, meint er nicht ausländische Feinde, sondern amerikanische Städte. Major General Charles J. Dunlap Jr., ein pensionierter stellvertretender Judge Advocate General, warnt vor den Konsequenzen: „China, Russland, Iran, Nordkorea und andere werden nicht von Bataillonen von Einwanderungsrichtern oder Truppen abgeschreckt, die mit Einwanderungsaufgaben auf Stadtstraßen beschäftigt sind, anstatt sich in den harten Umgebungen des National Training Center auf den Kampf gegen einen ebenbürtigen Konkurrenten in hochintensiven Kämpfen vorzubereiten.“

Major General Charles J. Dunlap Jr

Die Szenen aus Chicago – Bundesagenten in Tarnuniformen, die Touristen anstarren; Helikopter, die über Wohngebieten kreisen; Hunderte von Demonstranten, die durch die Michigan Avenue marschieren mit Schildern „No Trump No Troops“ – sind mehr als nur Momentaufnahmen einer polarisierten Nation. Sie sind Warnsignale einer fundamentalen Verschiebung in der amerikanischen Demokratie.

Die Gründerväter, Studenten der Geschichte, die sie waren, hätten die Gefahr sofort erkannt. Sie hatten ein System geschaffen, das genau dies verhindern sollte – die Verwendung des Militärs als innenpolitisches Werkzeug, die Erhebung des militärischen über den zivilen Staat. Doch dieses System funktioniert nur, wenn alle Beteiligten ihre Rolle spielen: Ein Kongress, der seine Kontrollmacht ausübt. Militärführer, die den Mut haben, Nein zu sagen. Und eine Öffentlichkeit, die versteht, was auf dem Spiel steht.

Noch hallt es nur leise über die Straßen – der Ruf nach dem Bürgerkrieg, ein dumpfes Grollen in Chicago, Los Angeles, Portland, Seattle und Memphis. Soweit darf es nicht kommen, doch die Atmosphäre ist elektrisch, aufgeladen bis zum Zerreißen. Die Wut hat ihre Grenzen erreicht, und was sich lange angestaut hat, sucht nun nach einem Ventil. Es ist das bedrohliche Gefühl, dass das Land am Rand eines Abgrunds steht – und dass ein einziger Funke genügt, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. In den Straßen von Chicago wird gerade ein gefährliches Experiment durchgeführt. Es ist ein Experiment, das die Gründerväter kannten und fürchteten, eines, das sie mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Die Frage ist nicht, ob sie sich im Grabe umdrehen würden – die Frage ist, ob genug Amerikaner verstehen, warum.

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Gabi
Gabi
3 Stunden zuvor

Schockierend diese Bilder, jedoch bin ich nicht überrascht. Die USA ist keine Demokratie mehr, traurig. Was Trump da inszeniert ist eine beispiellose Machtdemonstration gepaart mit beispiellosem Rassismus und Unterdrückung all der Menschen, die nicht in sein Bild und nicht ins MAGA-Bild passen. Das Ziel eine Bevölkerung zu erreichen die stillhält und sich bedingungslos unterwirft.
Wir hatten das in Deutschland mit dem Dritten Reich.
Das vierte Reich heisst nun USA. Mir macht das Angst und ich fürchte es dauert nicht mehr lange, bis es zum Bürgerkrieg kommt…. Nicht auszudenken was dann passiert, bei den laschen Waffengesetzen….

Für die USA kann man nur noch beten und hoffen….

und für Europa kann man nur hoffen, dass Ihr vielmehr Reichweite erlangt und das die Menschen aufrüttelt. Denn Trumps Vorgehen ähnelt verdammt dem der AfD-Pläne….

Danke für den Bericht und Eure unermüdliche Arbeit.

Josef Sanft
Josef Sanft
2 Stunden zuvor

Vielen Dank erst mal wieder für diesen Artikel und die Arbeit, die dahinter steckt. Ich bin froh über eure Berichte und Recherchen und nehme sie speziell jetzt im Fall USA auch sehr ernst, weil ich weiss, dass ihr ganz nah dran seid.
Ich neige nun wirklich nicht zu Verschwörungstheorien, aber aktuell und auf diesen Artikel bezogen muss man sich doch auch
mal die Cui Bono- Frage stellen. Bürgerkriegsähnliche Szenarien würden definitiv Putin helfen, da es durchaus vorstellbar ist, dass Trump die Unterstützung für die Ukraine einstellt, da er ja mit seinem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt ist. Fehlende Luftabwehrsysteme und fehlende Satellitendaten sowie fehlende Geheimdienstinformationen könnten mittelfristig dann der Todesstoss für die Ukraine werden , da Europa das nicht kompensieren kann. Und da nagt so ein Zweifel in mir, ob es hinter all dem nicht eine Art Script gibt.

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