Kommentar: Ein Land im Belagerungszustand – Wie Konservative nach dem Mord an Charlie Kirk die Grenzen der Meinungsfreiheit verschieben

VonRainer Hofmann

September 15, 2025

Die USA stehen nach der Ermordung von Charlie Kirk an einem gefährlichen Kipppunkt. Was vor wenigen Tagen noch ein Schockmoment war, ist längst zu einem politischen Fanal geworden: Teile der konservativen Bewegung wollen nicht nur den mutmaßlichen Täter bestrafen, sondern jeden, der sich über den Tod des rechten Provokateurs lustig machte oder auch nur zu wenig Mitgefühl zeigte. Eine Welle der Empörung rollt durchs Land, befeuert von Gouverneuren, Ministern, Influencern und Abgeordneten, die nun mit derselben Waffe zurückschlagen, über die sie jahrelang klagten – Cancel Culture.

In einem Livestream bedankte sich Erika Kirk bei Präsident Donald Trump, Vizepräsident JD Vance und den Unterstützern, die „ihre Liebe“ gezeigt hätten. Sie nannte ihren Mann einen Kämpfer, einen der einflussreichsten Podcaster des Landes, CEO und Mitgründer von Turning Point USA, einen Kulturkrieger und treuen Verbündeten Trumps. Doch die Trauer ist nicht still. Sie ist laut, fordernd, kompromisslos. Konservative Aktivisten haben in den Tagen nach Kirks Tod Kampagnen gestartet, die Lehrerinnen und Lehrer, Büroangestellte, Beamte, ja sogar Fernsehkommentatoren ins Visier nehmen, die sich abfällig äußerten. Mehrere von ihnen wurden bereits entlassen oder suspendiert – und viele weitere dürften folgen.

Ein Überwachungsvideo zeigte den mutmaßlichen Attentäter Tyler Robinson am Tag des Mordes, wie er durch ein Wohngebiet in Orem fuhr, ausstieg und sich zu Fuß auf den Weg machte. Die Fahndung ist noch nicht abgeschlossen, doch der Drang nach Abrechnung ist stärker denn je. Verkehrsminister Sean Duffy postete am Wochenende, American Airlines habe Piloten am Boden gelassen, die sich über Kirks Tod gefreut hätten. „Dieses Verhalten ist widerlich, sie sollten gefeuert werden“, schrieb er auf X.

Was wie eine Verteidigung von Kirks Vermächtnis klingt, ist in Wahrheit ein gefährliches Experiment: Die politische Rechte hat das Vokabular ihrer Gegner übernommen – Forderungen nach Entlassung, öffentlicher Ächtung, sozialem Druck – und richtet es nun gegen jene, die sie für moralisch verwerflich hält. Adam Goldstein von der Foundation for Individual Rights and Expression erinnert daran, dass genau diese Konstellation die Nagelprobe für die Meinungsfreiheit ist. „Die einzige Zeit, in der man wirklich freie Rede verteidigt, ist dann, wenn sie unpopulär ist“, sagt er. Niemand versuche, Menschen davon abzuhalten, Welpen oder Kaninchen zu lieben – es gehe um die hässlichen, verstörenden Äußerungen. Er zieht eine Linie zurück zu den Tagen nach dem 11. September 2001, als ebenfalls Menschen verfolgt wurden, weil sie abweichende Haltungen zeigten.

Präsident Trump selbst ging am Sonntag noch weiter. Er ließ durchblicken, dass seine Regierung bereits politische Gegner untersuche. „Sie stehen bereits unter massiven Ermittlungen, viele von denen, die man traditionell als links einstufen würde“, sagte er Reportern. Das zeigt, wie sehr der Mord an Kirk zum Katalysator geworden ist – ein Lackmustest für die Toleranz gegenüber politischer Differenz. Die Republikaner wollen nicht nur den Täter bestrafen, sondern alle, deren Worte sie als Anstiftung zu Gewalt oder als Entweihung des Opfers deuten.

Auch auf der anderen Seite gibt es Reaktionen. Einige Liberale attackierten in den sozialen Medien Prominente wie die Schauspielerin Kristin Chenoweth, weil sie öffentlich Anteilnahme zeigte. Die Fronten verhärten sich, und Studierende, die den Mord miterlebten, ringen mit Traumata. Für viele Republikaner war Kirk nicht nur ein Redner, sondern Architekt von Trumps Wahlsieg 2024 und Symbol einer Bewegung, die junge Wähler mobilisierte. Senator Lindsey Graham sagte auf NBC, die Tat sei mehr als ein Mord: „Das ist ein Angriff auf eine Bewegung durch Gewalt. So sehen es die meisten Republikaner.“

Die Liste der politischen und beruflichen Opfer wächst. Senatorin Marsha Blackburn, die sich um das Gouverneursamt in Tennessee bewirbt, forderte öffentlich die Entlassung mehrerer Hochschuldozenten, darunter eine stellvertretende Dekanin der Middle Tennessee State University und Professoren an zwei weiteren Colleges. Alle drei verloren ihre Stellen, nachdem sie mangelnde Anteilnahme gezeigt oder sogar Freude über Kirks Tod ausgedrückt hatten. Einer schrieb, Kirk habe „sein Schicksal selbst heraufbeschworen“.

Selbst in der NFL hallte das Echo des Attentats nach: Mehrere Teams hielten am Sonntag eine Schweigeminute ab – eine Ehre, die sonst Opfern von Schulmassakern, Anschlägen auf Gotteshäuser oder Naturkatastrophen vorbehalten ist.

Trump selbst hatte am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit ein Dekret unterzeichnet, das Bundesbeamten verbietet, die freie Rede von Bürgern verfassungswidrig einzuschränken. Vizepräsident JD Vance nutzte im Februar die Münchner Sicherheitskonferenz, um Europa zu ermahnen, die politische Rede nicht zu zensieren. „Unter Donald Trumps Führung mögen wir anderer Meinung sein, aber wir werden kämpfen, um Ihr Recht zu verteidigen, diese Meinung öffentlich zu äußern – egal ob wir zustimmen oder nicht“, sagte er damals. Doch dieselbe Regierung hat auch Visa von Ausländern widerrufen, die den Mord an Kirk bejubelten, und ihre Maßnahmen gegen missliebige Stimmen, Einwanderer und Akademiker verschärft.

Goldstein nennt das eine beispiellose Eskalation: „Ich kann mich an keinen anderen Moment erinnern, in dem die Vereinigten Staaten öffentlich warnten, Menschen könnten für ihre Äußerungen gecancelt werden.“

Utahs Gouverneur Spencer Cox mahnte, das Motiv sei weiterhin nicht bestätigt. Zwar identifiziere sich der Verdächtige mit der politischen Linken und habe Abneigung gegen Kirk geäußert, aber er sei bisher nicht als politischer Aktivist bekannt gewesen. Cox warnte zudem vor den Mechanismen sozialer Medien: „Ich kann gar nicht genug betonen, wie viel Schaden Social Media und das Internet uns allen zufügen“, sagte er bei NBCs „Meet the Press“. „Die mächtigsten Unternehmen der Welt haben herausgefunden, wie sie unser Gehirn hacken und uns süchtig nach Empörung machen.“

Doch die konservative Gegenbewegung richtet ihren Zorn nicht nur gegen Social Media, sondern auch gegen klassische Medien. Senatorin Katie Britt warf Fernsehsendern vor, durch Gäste, die Trump als Faschisten bezeichneten oder mit Hitler verglichen, zur Eskalation beigetragen zu haben. Für Britt sind solche Aussagen nicht nur unzutreffend, sondern gefährlich: „Es muss Konsequenzen geben für Menschen, die diese Art von Hass verbreiten und in diesem Fall den Mord feiern. Und ich glaube, die wird es geben.“

Was sich in den USA gerade abspielt, ist mehr als eine Trauerreaktion – es ist ein Stresstest für die Demokratie. Die Frage ist, ob eine Gesellschaft, die so tief gespalten ist, noch aushalten kann, dass selbst schockierende, verletzende Äußerungen erlaubt bleiben. Oder ob sie den Weg der Vergeltung geht – und damit den letzten Rest der Meinungsfreiheit aufs Spiel setzt.

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Ela Gatto
Ela Gatto
10 Tage zuvor

1. Amendment ad absurdum.

Es war vollkommen in Ordnung, als nach den Angriffen auf Josh Shapiro und den Ehemann von Nsncy Pelosi bei MAGA gespottet wurde und oft geschrieben wurde, dass es sehr bedauerlich ist, dass die Angriffe bicht erfolgreich mit dem Tod beendet wurde.

Noch schlimmere Kommentare nach dem Mord von Melissa Hortman, ihrem Ehemann und ihrem Hund.
Es wurde gefeiert, gelacht und die Angehörigen verspottet.
Fahnen auf Halbmast durch Trump? Fehlanzeige.

Aber es wurde keine Webseite zur Denunziation geschaffen.
Es wurden keine Personen wegen dieser Posts entlassen.

Aber jetzt soll ganz klar allen anders Denkenden der Mund verboten werden. Soe sollen ihre Jobs verlieren und Angst vor Verhaftungen haben.

Trump ist Hitler 2.0
Wer das immer noch nicht sieht und begreift ist blind, dumm, naiv oder alles Zusammen.

Harald Grundke
Harald Grundke
10 Tage zuvor
Reply to  Ela Gatto

Ich kann ihnen nur beipflichten. Man kann es mit den Hexenverfolgungen im Mittelalter vergleichen. Trump mag noch nicht Hitler sein, aber der weg dahin scheint vorgezeichnet. Mir das auch für unser Land sehr große Sorgen.

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