„Weißer Mann, wehre dich!“ – Wie der Mord an Charlie Kirk Zensur und extreme Rechte entfesselt

VonRainer Hofmann

September 13, 2025

Jahrelang waren Charlie Kirk und die Milieus der extremen Rechten verfeindet. Für Neonazis, White Supremacists und Milizen wie die Proud Boys oder die Oath Keepers war Kirk kein Verbündeter, sondern ein Hindernis – zu moderat, zu eng mit dem politischen Establishment, zu kompromissbereit. Obwohl er trans Menschen, Muslime, unverheiratete Frauen und andere Minderheiten verächtlich machte und ein Amerika forderte, in dem das Christentum das Zentrum allen Lebens bildet, galt er ihnen als zu angepasst. Für manche war sogar seine kompromisslose Unterstützung der israelischen Regierung ein Grund, ihn als Gegner zu sehen. Doch kaum war Kirk am Mittwoch in Orem, Utah, bei einem Turning-Point-USA-Event erschossen worden, drehte sich das Bild radikal. Dieselben Gruppen, die ihn gestern noch verachteten, präsentierten ihn nun als gefallenen Kameraden, als Opfer eines Krieges, der ihrer Lesart nach gegen weiße, christliche Männer geführt wird.

Neonazi-Aufmarsch zu Gedenken an Charlie Kirk am 11. September 2025 in Huntington Beach, Orange County, US-Bundesstaat Kalifornien.

Die Tat wurde sofort zum Fanal stilisiert, zu einem Schlachtruf. Telegram-Kanäle fluteten mit Aufrufen zum Handeln, Videos von Mahnwachen wurden geteilt, in denen Männer „Weißer Mann, wehre dich“ skandierten. Was wie ein Moment der Besinnung hätte sein können, verwandelte sich in eine Mobilisierungswelle, die extremistische Gruppen als Chance begriffen: endlich wieder Anschluss an die Empörung der breiten konservativen Basis, endlich wieder ein Vorwand, um Hass in Energie zu verwandeln.

Im Mai 2025 hatten wir nicht ganz unproblematische Recherchen unter dem Artikel „Die Schattenarmee“ unter dem Link https://kaizen-blog.org/die-schattenarmee-the-shadow-army/ – veröffentlicht.

Ryan Sánchez, Anführer des neo-nazistischen National Network am 11. September 2025

Ryan Sánchez, Anführer des „National Network“, der im Vorjahr bei der CPAC mit einem Hitlergruß gefilmt worden war, schrieb auf seinem Kanal: „„Nichts kann aufhalten, was kommt. Wir mobilisieren junge Nationalisten, um unsere Gemeinschaften gegen die radikale Linke zu verteidigen – wir brauchen eure Hilfe!“ Daneben postete er den Screenshot einer Spende über 1.000 Dollar auf der christlichen Crowdfunding-Plattform GiveSendGo. Der Spender schrieb dazu: Nutze es für das Gute und säubere das Land von diesen verrückten Ideologien. Ein anderer Nutzer, der sich „White Nationalist“ nannte, kommentierte: „Time to take our country back fellas. Get to work!“ Es sind nicht nur Worte – sie sind Aufrufe. Der Mord an Kirk ist damit zum Rekrutierungsinstrument geworden. Gruppen, die seit den Massenverhaftungen nach dem 6. Januar 2021 in den Untergrund gedrängt waren, wittern ihre Rückkehr. Forscher wie Luke Baumgartner vom „Program on Extremism“ an der George Washington University warnen: „Das Gefährlichste sind nicht die Normalbürger, die sich plötzlich radikalisieren. Die echte Gefahr sind die, die schon am Rand stehen – die jetzt ihren Grund finden, den Schritt von der Online-Radikalisierung zur realen Gewalt zu gehen.“ Sánchez bewarb die Mahnwachen in Huntington Beach, in dem die Parole „Weißer Mann, wehre dich!“ gerufen wurde, und postete ein Foto von sich mit der Überschrift „DEATH TO THE LEFT“. Solche Bilder verbreiteten sich in einschlägigen Kanälen wie dem „Anti-Communist Combat HQ“, das seit Jahren antisemitische und rassistische Inhalte kuratiert.

Christliche Nationalisten und Neo-Nazigruppen nennen Charlie Kirk einen „Märtyrer“ und verlangen nach Rache
Christliche Nationalisten und Neo-Nazigruppen nennen Charlie Kirk einen „Märtyrer“ und verlangen nach Rache

Die Proud Boys, seit Jahren dezimiert durch Prozesse und Haftstrafen, wittern ebenfalls Morgenluft. Auf Telegram-Kanälen wurde gefordert, „massive, top-down, state violence against evildoers“ auszuüben. Ein Ableger in Texas postete das Bild eines Ritters mit brennendem Kreuz und dem Schriftzug „time to lock in“, gefolgt von einem Video Adolf Hitlers mit der Botschaft „Eye for an eye.“ Zwei Proud Boys tauchten noch am Abend des Anschlags bei einer improvisierten Mahnwache in Utah auf. Enrique Tarrio, der ehemalige Anführer, dessen 22-jährige Haftstrafe wegen seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol von Trump aufgehoben wurde, erklärte: „Wir werden nicht zu Gewalt aufrufen, aber wir werden die Arbeitgeber derer informieren, die den Tod von Kirk gefeiert haben.“ Zahlreiche Kanäle veröffentlichten daraufhin Listen mit Namen und Profilen mutmaßlicher „Feierer“.

In sozialen Medien kursierten am Abend dringende Warnungen an BIPoC, LGBTQ-Personen und Linke in Orange County: In Huntington Beach seien ab 18:30 Uhr weiß-suprematistische Aktivitäten geplant, besonders rund um den Pier. Die Botschaften waren durchzogen von purer Angst – sie riefen nicht nur zu Vorsicht auf, sondern dazu, sich gegenseitig zu schützen, wachsam zu bleiben und sich auf mögliche Übergriffe vorzubereiten.

Auch die Oath Keepers wollen zurück auf die Bühne. Gründer Stewart Rhodes, ebenfalls von Trump begnadigt, verkündete auf Infowars, der Mord an Kirk habe ihm die Inspiration gegeben, die Miliz neu aufzubauen: „Wenn mein Team dort gewesen wäre, hätten sie Charlie Kirk gerettet.“ Rhodes will dem Weißen Haus ein Konzept vorlegen, um Milizen landesweit zu aktivieren. Er ruft Männer zwischen 17 und 45 auf, „Nachbarschaften zu sichern und Terrorangriffe zu verhindern.“ Nur einen Tag später meldete sich Jessica Watkins, eine verurteilte Oath Keeperin, auf X: „Charlie Kirk’s assassination pulled me out of retirement. More work must be done.“ Forscher wie Devin Burghart vom „Institute for Research & Education on Human Rights“ sehen in dieser Entwicklung ein düsteres Omen: „Zu sehen, wie die beiden Gruppen, die den 6. Januar geprägt haben, in einen gewaltverherrlichenden Modus zurückkehren, sollte uns alle alarmieren.“ Das Bild ist eindeutig: Der Mord an Charlie Kirk ist zum Katalysator geworden, der nicht Besonnenheit, sondern Vergeltungsfantasien freisetzt – und ein Ökosystem wiederbelebt, das sich nach Konfrontation sehnt.

Besonders brisant ist aber auch eine andere Form der Konfrontation, wie schnell große Medienkonzerne reagierten, um jede kritische Einordnung von Kirks Vermächtnis im Keim zu ersticken. Am Freitag verschickten Comcast-Topmanager eine unternehmensweite E-Mail an alle Mitarbeiter von NBCUniversal, einschließlich NBC, MSNBC, CNBC und Bravo. Darin wurde Kirk als „Verfechter offener Debatten“ gewürdigt – und gleichzeitig unmissverständlich klargemacht, dass selbst harmlose Abweichungen vom offiziellen Ton zu Kündigungen führen können. Der Fall des MSNBC-Analysten Matthew Dowd, der nach einer nüchternen Bemerkung über Kirks polarisierende Rhetorik sofort entlassen wurde, dient als warnendes Beispiel.

In einer konzernweiten E-Mail würdigen die Comcast-Manager Brian Roberts, Mike Cavanagh und Mark Lazarus Charlie Kirk als 31-jährigen Vater, Ehemann und „Verfechter offener Debatten“. Sein Tod erinnere an die Zerbrechlichkeit des Lebens und an die Notwendigkeit von nationaler Einheit, Gewalt habe keinen Platz in der Gesellschaft. Sie verweisen darauf, dass MSNBC die Zusammenarbeit mit einem Kommentator beendet habe, der sich unangebracht zu dem Attentat geäußert habe. Die Manager betonen, dass unterschiedliche Meinungen respektvoll ausgetauscht werden müssten, auch bei leidenschaftlicher Debatte. Kirks Überzeugung, dass Stillstand im Dialog zu „wirklich schlimmen Dingen“ führe, wird als Vorbild genannt. Die E-Mail ruft alle Mitarbeiter auf, in ihrer Arbeit und im Alltag die Werte des Unternehmens zu verkörpern, respektvoll zu sein, zuzuhören und andere freundlich zu behandeln.

Der Konzern betonte, man müsse „besser zuhören“ und respektvoll bleiben – eine Botschaft, die weniger nach offener Debatte klingt, als nach einer klaren Ansage an Journalistinnen und Journalisten, die Realität nicht beim Namen zu nennen. Comcast ist der größte Kabel- und Internetanbieter der USA und zugleich Eigentümer von NBCUniversal, zu dem Sender wie NBC, MSNBC, CNBC und der Streamingdienst Peacock gehören. An der Spitze stehen CEO Brian L. Roberts und Präsident Mike Cavanagh – Schwergewichte der US-Medienbranche, deren Entscheidungen weitreichende Auswirkungen auf die öffentliche Debatte haben. Der Konzern kontrolliert einen erheblichen Teil der amerikanischen Nachrichten- und Unterhaltungslandschaft und erzielt jährlich Umsätze in dreistelliger Milliardenhöhe. Comcast ist kein offizielles Sprachrohr der MAGA-Bewegung – doch die Reaktion auf Kirks Tod zeigt, wie mächtig deren Druck auf die öffentliche Debatte wirkt. Mit NBC, MSNBC und CNBC kontrolliert Comcast einen großen Teil der US-Medienlandschaft, und wenn die Konzernspitze in einer Rundmail davor warnt, sich „unakzeptabel“ über Kirk zu äußern, wirkt das wie eine präventive Selbstzensur. Die Botschaft ist klar: Wer vom weichgespülten Narrativ abweicht, riskiert seine Karriere. So entsteht ein Klima, in dem selbst kritische Journalist:innen davor zurückschrecken, Kirks radikale Rhetorik zu benennen – und damit wird der Diskurs der Rechten faktisch gestärkt.

Comcast CEO Brian L. Roberts und Präsident Mike Cavanagh

Es ist dunkel geworden in den USA. Die Gewalt wird sich steigern, Trump wird weiter richten. Das Nazitum ist voll erwacht, und die kommenden Wochen werden zeigen, wohin dieses Land steuert – faktisch ist alles möglich. Vielleicht blickt man eines Tages zurück und erkennt, dass dieser Moment der Beginn eines endgültigen Abgleitens war, ein Augenblick, in dem die Demokratie ins Taumeln geriet. Doch genau deshalb ist jetzt der Moment, hinzusehen, zu widersprechen, aufzustehen. Geschichte schreibt sich nicht von selbst – sie wird von denen geschrieben, die den Mut haben, sich der Finsternis entgegenzustellen, in Amerika, Deutschland oder einfach ganz woanders.

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Irene Monreal
Irene Monreal
12 Tage zuvor

Es ist zum aus der Haut fahren, aber danke für den Bericht! Ich würde mich nicht unter diese Leute trauen, wenn die einen vermeintlichen Gegner erkennen, explodiert ein Pulverfass.
Passt auf euch auf!

Esther
Esther
12 Tage zuvor

Es ist ganz einfach unglaublich was da abgeht…. Einen Hassprediger zum Märtyrer emporstylen und gleichzeitig junge Leute animieren, diesen Hass auf die Demokraten weiter verbreiten zu helfen!
Eigentlich wurden diese kruden Ansichten und der Hass der Ultrarechten schon seit Jahren, bzw. Jahrzehnten weiter verbreitet….auch der Pseudoreligiosität wurde eifrig gehuldigt. Und wenn man bedenkt, dass in Amerika 80% des privaten Waffen Besitzes bei den Rechten ist…das kommt nicht gut….

Besten Dank für die Information.

Ela Gatto
Ela Gatto
11 Tage zuvor

Enrique Torres ….. das ist ja fast, als ob ein Jude 1935 Heil H**** skandiert hätte 🙈

Was jetzt erwacht sind neben Nazis, Rassisten, Faschisten auch die Incels.
Die ihre Chance in der Bewegung sehen Frauenrechte abzuzchaffen, Frauen zu unterdrücken.
Auch dafür stand Kirk „die Frau hat sich dem Mann unter zu ordnen“

Und so Viele vereinigen sich gegen die Demokratie, es ist erschreckend!
Wie soll man das noch aufhalten? Ist es noch aufhaltbar?
Oder muss es weltweit erst zu einem Megaknall kommen, bevor es besser wird?
Dann liegt eine sehr lange und dunkelblond Zeit vor uns.

Gabi
Gabi
11 Tage zuvor

Es ist beängstigend was da gerade abgeht und seit Jahren im Stillen sich entwickelt hat.
Danke für den Bericht

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