Wie sechs Richter des Supreme Court den Geist des Dritten Reichs zurückbrachten

VonRainer Hofmann

Oktober 8, 2025

In kaum einem anderen Gremium zeigt sich der Machtwille von Donald Trump so deutlich wie im Supreme Court der Vereinigten Staaten. Mit einer ultrakonservativen Mehrheit von sechs zu drei Stimmen hat sich das höchste Gericht zunehmend von einem Ort verfassungsrechtlicher Auslegung zu einem politischen Instrument verwandelt – einem Forum, in dem Urteile nicht mehr durch juristische Abwägung, sondern durch ideologische Gefolgschaft geprägt erscheinen. In zentralen Fragen der Exekutivgewalt, der Immunität des Präsidenten, der Migrationspolitik und der Rechte von LGBTQ-Personen stimmen sechs Richterinnen und Richter regelmäßig im Sinne Trumps: John Roberts, der Oberste Richter, tritt zwar oft moderierend auf, hat sich aber in jüngster Zeit klar auf die Seite des konservativen Blocks gestellt. Clarence Thomas, dienstältester Richter, steht ideologisch fest an Trumps Seite und war zuletzt selbst in massive Interessenkonflikte verwickelt. Samuel Alito, ein aggressiver Kulturkämpfer, prägt die Rechtsprechung mit einer klar religiös-konservativen Agenda. Neil Gorsuch, Trumps erste Ernennung, gilt als dogmatisch in Fragen der Deregulierung und Machtkonzentration der Exekutive. Brett Kavanaugh, einst unter Protest durchgesetzt, steht zuverlässig für Trumps Positionen ein, insbesondere in Strafrechtsfragen. Und Amy Coney Barrett, die noch kurz vor der Wahl 2020 durchgedrückt wurde, hat sich inzwischen zur Verteidigerin einer weitreichenden präsidentiellen Autorität entwickelt. Diese sechs Stimmen bilden Trumps eiserne Mehrheit – eine juristische Festung, in der liberale Mahnungen verhallen.

Die Bande der Sieben – Donald Trump und seine sechs Scharfrichter im höchsten Gericht

Schon bevor Trump im Januar 2025 seine zweite Amtszeit antrat, hatte der Supreme Court ihm den Weg geebnet – zunächst mit der Entscheidung, dass er trotz laufender Anklagen auf den Wahlzetteln bleiben durfte, und später mit dem umstrittenen Immunitätsurteil, das ihn vor einem Strafprozess wegen seiner versuchten Einflussnahme auf die Wahl 2020 bewahrte. Das Urteil dehnte nicht nur die Schutzräume des Präsidentenamts aus, es war auch ein Signal: Trump darf, was anderen verboten ist. Und er nutzte es. Seit seinem Wiedereinzug ins Weiße Haus agiert das Gericht bemerkenswert präsidentenfreundlich. Besonders deutlich wurde das in der Entscheidung vom 27. Juni, die Bundesrichtern künftig erheblich erschwert, landesweite Eilstopps gegen neue Regierungsmaßnahmen zu verhängen – ein Instrument, das in der Vergangenheit oft eingesetzt worden war, um Trumps radikalste Dekrete zu stoppen. Die Reaktion der liberalen Richterinnen ließ nicht lange auf sich warten. Sonia Sotomayor und Ketanji Brown Jackson warnten eindringlich vor einem gefährlichen Machtgefälle, das sich zugunsten der Exekutive verschiebt. Jackson sprach von einer „ernsten Gefährdung des amerikanischen Regierungssystems“. Amy Coney Barrett, Verfasserin der Entscheidung, konterte, man dürfe keine „imperiale Justiz“ fordern, während man gleichzeitig die „imperiale Exekutive“ kritisiere – doch das Klima war längst vergiftet. Auch im sogenannten Emergency Docket, dem Schattenverfahren des Gerichts, wurden in den letzten Monaten zahlreiche vorläufige Urteile gefällt, fast alle zugunsten Trumps. Aufenthaltsrechte für Migrant:innen wurden entzogen, Abschiebungen beschleunigt, Musk’s radikale Kürzungspläne im „Department of Government Efficiency“ durchgewunken – oft ohne mündliche Anhörung, aber mit deutlicher Schlagseite. Diese Entscheidungen mögen formal nur vorläufig sein, doch sie signalisieren mit Nachdruck, wo die konservative Mehrheit steht: fest an der Seite des Präsidenten.

Besonders verheerend aber ist die Bilanz für trans Menschen. In drei Entscheidungen in kurzer Folge wurde der Schutz für LGBTQ-Personen massiv eingeschränkt. Das Gericht ließ ein Verbot medizinischer Behandlungen für trans Jugendliche in Tennessee bestehen – ein Urteil, das bereits jetzt als Richtungsweiser für andere Staaten dient. Auch das Verbot für trans Menschen, im Militär zu dienen, wurde trotz verfassungsrechtlicher Bedenken bestätigt. Und zum Abschluss des Gerichtsjahres entschied die Mehrheit zugunsten religiöser Eltern in Maryland, die verhindern wollten, dass ihre Kinder in der Schule mit LGBTQ-Geschichten konfrontiert werden. Während Samuel Alito das Urteil als Sieg der Religionsfreiheit feierte, warnte Sotomayor in ihrer abweichenden Meinung vor einem Angriff auf das „Herzstück öffentlicher Bildung“. Die liberalen Richterinnen wirken zunehmend machtlos. Ihre abweichenden Meinungen sind scharf, klagend, oft erschütternd in ihrer Verzweiflung – und doch ohne Einfluss. Jackson warf ihren Kolleg:innen vor, mit dem Verbot nationaler Gerichtsbeschlüsse einen Freifahrtschein für rechtswidriges Regierungshandeln zu erteilen. Sotomayor sprach im Zusammenhang mit den beschleunigten Abschiebungen in Drittländer von der „Belohnung von Gesetzesbruch“. Und zur Entscheidung über die transmedizinische Versorgung schrieb sie: „Dieses Urteil autorisiert – ohne mit der Wimper zu zucken – unermesslichen Schaden für Kinder und Familien.“ Dass sich an dieser Dynamik bald etwas ändern könnte, ist unwahrscheinlich. Ein möglicher Rücktritt eines konservativen Richters, der das Gleichgewicht des Gerichts verschieben könnte, blieb trotz aller Spekulationen aus. Clarence Thomas (77) und Samuel Alito (75) sitzen fest im Sattel. Mit einer republikanischen Senatsmehrheit bis mindestens Ende 2026 könnten sie ihre Nachfolge ohnehin problemlos sichern. Thomas, der längst dienstälteste Richter, nähert sich dem historischen Rekord von William O. Douglas – 36 Jahre am Supreme Court. Drei Jahre fehlen ihm noch. Drei Jahre, in denen Trump weiter Fakten schaffen kann. Denn wenn der Supreme Court zur verlängerten Werkbank der Exekutive wird, dann verliert nicht nur die Justiz ihre Unabhängigkeit. Dann steht das demokratische Fundament selbst auf dem Spiel.

Ketanji Brown Jackson, Richterin am Supreme Court – eine der wenigen Stimmen dort, die noch Anstand und moralische Haltung bewahren

Richterin Ketanji Brown Jackson nannte das, was hier geschieht, beim Namen: den Aufbau eines „Zwei-Spuren-Systems“, in dem die Armen, die Machtlosen, die Unpopulären in einem „rechtsfreien Raum“ leben – einem, der „die Schrecken der Geschichte“ widerhallen lasse. In einer Fußnote zitierte sie den jüdischen Juristen Ernst Fraenkel, der 1941 im Exil sein Werk „The Dual State“ veröffentlichte – eine Analyse des nationalsozialistischen Rechtssystems, das vorgab, Rechtsstaat zu bleiben, während es den Rechtsbruch zur Methode erhob. Fraenkel unterschied zwischen dem „normativen Staat“, der weiterhin Gesetze, Gerichte und Verträge kennt, und dem „Prärogativstaat“, in dem der Wille des Führers alles ersetzt. Das Entscheidende aber war nicht die Existenz beider, sondern ihr Nebeneinander. Während die Mehrheit der Deutschen noch arbeitete, einkaufte und Steuern zahlte, wurden andere willkürlich verschleppt, entrechtet, vernichtet. Die Normalität selbst wurde zur Tarnung der Barbarei.

Ernst Fraenkel

Acht Jahrzehnte später passt Fraenkels Modell verstörend genau auf die Vereinigten Staaten. Während für die meisten Bürger das Leben weitergeht – Märkte funktionieren, Wahlen finden statt, die Post kommt pünktlich – existiert eine andere Realität, in der Studenten wie Rümeysa Öztürk und Green-Card-Inhaber wie Mahmoud Khalil für ihre Worte eingesperrt werden, in der ICE-Beamte Menschen nach Hautfarbe kontrollieren, Schiffe versenken, Zivilisten erschießen. In der der Präsident Medien bedroht, Künstler feuern lässt und Gesetze nach Bedarf umdeutet. Und über all dem steht ein Gericht, das diese Exzesse nicht etwa stoppt, sondern juristisch verbrämt.

John Roberts

Die sechs republikanischen Richter, allen voran John Roberts, fungieren als Architekten dieser neuen Ordnung. Indem sie Trumps Macht jedes Mal unter dem Deckmantel des Rechts erweitern, schaffen sie, was Fraenkel die „duale Illusion“ nannte: ein System, das zugleich autoritär und rechtmäßig erscheint. Der Jurist Evan Bernick formulierte es nüchtern: „Das Gericht passt das Recht an, um der Willkür Platz zu machen.“

Evan Bernick

Diese Willkür wird bald auf offener Bühne verhandelt. In den kommenden Monaten entscheidet der Supreme Court über Trumps Notstandsbefugnisse – ob er eigenmächtig Zölle erheben, Menschen deportieren oder Mitglieder der Federal Reserve absetzen darf. Formal geht es um Paragrafen, faktisch um das Ende der Gewaltenteilung. Sollte das Gericht ihm in allen Punkten folgen, wäre das die juristische Lizenz zur Diktatur – ein Staatsstreich in Robe.

Ernst Fraenkel beschrieb einst, wie die Gerichte des Dritten Reichs den Schutz jüdischer Mieter zunächst bestätigten – bis die Parteipresse sie angriff. Dann erklärten dieselben Richter, Mietrecht sei „keine juristische Frage, sondern eine Frage der Weltanschauung“. Von da an galt nicht mehr das Gesetz, sondern die Ideologie. Genau das wiederholt sich heute im Schatten des sogenannten „Emergency Docket“, des Notfallverfahrens des Supreme Court. Entscheidungen fallen ohne Begründung, ohne Öffentlichkeit, oft über Nacht – und fast immer zugunsten des Präsidenten.

So durfte Trump per Schattenbeschluss Bundesbeamte entlassen, obwohl Gesetze ihren Schutz garantieren. Er durfte Transmenschen aus dem Militär ausschließen, Migranten in gefährliche Länder abschieben, Milliarden an Hilfsgeldern zurückhalten. Jedes Mal blieb die Begründung aus – und genau das ist der Punkt. „In einem Prärogativstaat scheint es ein Gesetz zu geben, das X verlangt, aber plötzlich ist es Y“, sagt Bernick. „Und niemand erklärt, warum.“ Das Muster ist unverkennbar: Der Präsident handelt, das Gericht nickt ab, und beide behaupten, das Recht sei gewahrt. Doch was bleibt, ist ein Raum ohne Regeln. Ein Raum, den Fraenkel „das Schwarze Loch des Rechts“ nannte – ein Gravitationszentrum, das nach und nach alles verschlingt, was sich ihm nähert.

Aziz Huq

Noch, so argumentieren Juristen wie Aziz Huq, sei die Katastrophe nicht vollständig. Menschen wie Khalil oder Abrego Garcia, die trotz Gerichtsbeschlüssen deportiert werden sollten, fanden Richter, die sie zurückholten. Doch diese Siege sind brüchig, Momentaufnahmen in einem System, das sich längst neu formatiert. Wenn Trump die Federal Reserve unter seine Kontrolle bringt – wozu ihm nur ein einziges Urteil fehlt – dann wird der normative Staat selbst zur Fassade eines ökonomischen Autoritarismus. Die Ironie ist, dass die Richter selbst Gefangene ihres Werkes sind. Sollte Trump die Entscheidungen des Supreme Court eines Tages ignorieren, würde ihre Autorität zusammenbrechen. Ihr Einfluss existiert nur, solange der Präsident die Fiktion des Rechts respektiert. Und so bevorzugen sie das Verborgene, das Verkleidete – eine autoritäre Ordnung mit juristischem Make-up. Ein System, das tut, als würde es Demokratie spielen, während es sie von innen heraus entleert.

Kim Lane Scheppele

Die Historikerin Kim Lane Scheppele nennt dieses Phänomen „autokratischen Legalismus“ – den Missbrauch bestehender Gesetze, um ihre Schutzfunktion umzukehren. Der Supreme Court, sagt sie, habe das Tor dafür geöffnet. Schon vor Trumps zweiter Amtszeit habe das Roberts-Gericht durch Urteile zu Wahlrecht, Finanzierung und Exekutivmacht die Demokratie ausgehöhlt. Mit der Entscheidung vom Juli 2024, die Präsidenten für „offizielle Handlungen“ weitgehend immun machte, erhob es den Präsidenten endgültig über das Gesetz. „Im Grunde“, so Scheppele, „sagt das Gericht: Der Präsident kann nicht durch Strafrecht gebremst werden. Warum also durch Haushaltsrecht?“

Seitdem ist die Grenze gefallen, die Fraenkel als Kern des Rechtsstaates bezeichnete – die Unverletzlichkeit des Gesetzes gegenüber dem Souverän. Was in der Weimarer Republik als Notverordnung begann, wurde zum Selbstmord der Verfassung. Trumps Macht hat heute dieselbe Dynamik. Der Supreme Court gibt ihm die juristischen Hebel, ihn als „König im Mantel der Demokratie“ zu inszenieren. Und die Öffentlichkeit? Sie wird beruhigt mit der Botschaft, alles sei legal, alles verfassungsgemäß. So wie die Nazis das Mietrecht respektierten – bis sie beschlossen, dass Mieter nicht mehr zur „Volksgemeinschaft“ gehörten.

Die ökonomische Dimension dieses Dualstaats ist ebenso perfide wie präzise: Während Trump Kontrolle über Ministerien, Behörden und Medien gewinnt, schützt das Gericht ausgerechnet die Federal Reserve – um Investoren zu beruhigen. Die Botschaft an die Märkte lautet: Alles stabil, alles normal. An die Bürger: Es gibt keinen Grund zur Sorge. Nur wer aus dem Rahmen fällt, wird vom Gesetz verschluckt. Doch diese Fassade ist brüchig. Je offensichtlicher das Arrangement, desto geringer das Vertrauen. Sollte das Vertrauen der Märkte kippen, könnte das ganze Gebilde kollabieren – wie Fraenkel schrieb, „in sich selbst implodierend, wenn der Schein der Legalität verschwindet“.

Ketanji Brown Jackson weiß das. Ihre Dissents sind mehr als juristische Meinungsverschiedenheiten – sie sind Alarmsignale. Wenn Gerichte nicht mehr den Mut haben, der Regierung zu befehlen, das Gesetz zu befolgen, warnte sie, dann „sanktionieren sie die Tyrannei“. Die Vereinigten Staaten stehen an der Schwelle, die Fraenkel einst für Deutschland beschrieb: zwischen der Täuschung des Rechts und der offenen Diktatur. Noch funktioniert die Täuschung. Noch schreiben Richter Urteile, als ginge es um technische Fragen, nicht um das Schicksal der Republik. Doch die Wahrheit ist, dass das Gesetz selbst längst zu einem Instrument der Macht geworden ist – und dass der Supreme Court, der es schützen sollte, es als Waffe ausliefert.

Wenn die Demokratie eines Tages fällt, wird man vielleicht sagen, sie sei nicht durch Gewalt gestürzt worden, sondern durch eine Mehrheit von sechs Richtern, die beschlossen, dass der Präsident über dem Gesetz steht. Und dass sie, um ihre eigene Autorität zu retten, Amerika in zwei Staaten teilten: einen sichtbaren, geordneten – und einen, in dem das Gesetz aufgehört hat zu gelten.

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Harald Grundke
Harald Grundke
1 Tag zuvor

 😕  was soll man da noch kommentieren. Der Weg ist vorgezeichnet. Wenn nicht doch noch etwas gravierendes passiert, was ich Moment aber leider nicht sehe.

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