Drei Jahre nach seiner Einführung ist das Bürgergeld faktisch beendet. Das Bundeskabinett hat eine Reform auf den Weg gebracht, die das bisherige System durch eine neue Grundsicherung ersetzt und für rund 5,5 Millionen Menschen deutlich härtere Regeln vorsieht. Künftig kann der vollständige Wegfall von Leistungen drohen, wenn Betroffene als nicht erreichbar gelten. Bereits drei versäumte Termine beim Jobcenter sollen ausreichen, um Zahlungen einzustellen. Selbst die Übernahme der Wohnkosten kann dann entfallen. Formell sieht der Gesetzentwurf vor, dass Betroffene vor Sanktionen angehört werden müssen. Psychisch erkrankte Menschen sollen geschützt sein. Doch der Entscheidungsspielraum der Behörden wird massiv ausgeweitet. Gleichzeitig wird der Umgang mit Vermögen verschärft. Die bisherige Karenzzeit entfällt, eigenes Einkommen und Ersparnisse müssen schneller eingesetzt werden. Die Höhe des Schonvermögens soll künftig vom Lebensalter abhängen.
Offiziell betont die Regierung, die Vermittlung in Arbeit stehe wieder im Zentrum. Weiterbildung bleibt möglich, soll aber nur dann Vorrang haben, wenn sie unmittelbar als erfolgversprechend gilt. Auffällig ist, dass die Reform kaum finanzielle Effekte bringt. Für 2026 werden Einsparungen von lediglich 86 Millionen Euro erwartet, in den Folgejahren sollen die Kosten sogar wieder leicht steigen. Der soziale Einschnitt ist erheblich, der fiskalische Nutzen gering. Kritik kommt von Sozialverbänden, von der Linkspartei, den Grünen und aus Teilen der SPD. Sie warnen vor einem System, das Misstrauen über Unterstützung stellt und tief in das Existenzminimum eingreift. Doch diese Einwände bleiben Randnotizen. In der breiten Berichterstattung dominieren Zusammenfassungen oder keine eigenen Redaktionsmeinungen, Verlautbarungen und politische Einordnung im engen Rahmen des Regierungsnarrativs. Die Frage, wen diese Reform konkret trifft und welche Folgen sie im Alltag haben wird, bleibt meist unbeantwortet, auch bereits davor. Gerade hier wäre unabhängiger Journalismus im Vorfeld notwendig gewesen, als gründliche Prüfung politischer Entscheidungen und ihrer realen Auswirkungen. Stattdessen wird der Nachrichtenraum in Deutschland zunehmend von Agenturmeldungen und populistischen Medien geprägt. Politische Entscheidungen werden verwaltet, erklärt, eingeordnet – aber nur selten wirklich direkt durch Redaktionen hinterfragt. Investigative Arbeit, die Konsequenzen sichtbar macht, findet kaum noch statt.
Die neue Grundsicherung ist damit nicht nur eine sozialpolitische Weichenstellung. Sie ist auch ein Spiegel dafür, wie politische Entscheidungen heute durchgesetzt werden können, ohne ernsthaft hinterfragt zu werden. Dass diese Leerstelle kaum auffällt, ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck eines Journalismus, dem Zeit, Ressourcen und Unabhängigkeit zunehmend fehlen – und einer Öffentlichkeit, die sich daran gewöhnt hat, dass tiefgreifende Einschnitte zur Normalität werden.
Für ein Land, das flächenmäßig in etwa der Größe des US-Bundesstaates Montana entspricht, ist es bemerkenswert, wie wenig Gegenwehr sich entwickelt. 2004 fanden noch flächendeckenden, großmaßstäblichen Demonstrationen mit 200.000 bis 300.000 Teilnehmenden pro Woche gegen die Hartz-IV-Reform statt. Bis auf wenige kleine, lokal oder in politische Strukturen eingebettete Versammlungen fand diesmal nichts statt. Die Dimension des Landes steht dabei in keinem Verhältnis zu öffentlichen Möglichkeiten, die sich immer weiter zurückziehen – und die auch der AfD erst das nötige Sprungbrett gebaut hat. Nicht durch tatsächliche politische Stärke, sondern durch permanente Sichtbarkeit. In sozialen Medien wird sie größer gemacht, als sie real schon ist, durch ständiges Teilen aufgewertet, durch pausenlose Aufmerksamkeit normalisiert. Selbst eine politisch unbedeutende Reise wird mit Panikberichten aufgeladen und wirkt am Ende mächtiger, als sie es je war. Aufmerksamkeit ersetzt Einordnung, Reichweite ersetzt Relevanz. Die Folgen zeigen sich längst, auch beim Bürgergeld: Verschärfungen werden durchgesetzt, weil Widerstand ausbleibt und der politische Rahmen nach rechts verschoben wurde. Solange diese Mechanik nicht erkannt wird, steuert Deutschland schrittweise auf Machtverhältnisse zu, in denen die AfD nicht nur dröhnend ist, sondern reale Befugnisse erhält.
Dass diese politische Schieflage nicht völlig unbeachtet bleibt, sondern zunehmend auch von außen erkannt wird, ist ein weiteres Warnsignal. Selbst jenseits des Atlantiks ist angekommen, was sich im Inneren oft nur diffus anfühlt. Die US-Zeitschrift Foreign Policy formulierte es kürzlich bemerkenswert klar: „Deutschland liebt es, Friedrich Merz zu hassen.“ Der amtierende Kanzler, so die Analyse, werde niemals ein Politiker mit echtem Publikum sein, keiner, dem man folgt, weil man ihm vertraut oder sich mit ihm identifiziert. Und doch, heißt es weiter, könnten er und seine Regierung politisch bestehen – nicht durch Zustimmung, sondern durch angesammelten, widerwilligen Respekt. Genau darin liegt die eigentliche Diagnose. Politik funktioniert weiter, auch ohne Rückhalt, auch ohne Begeisterung, solange sie nicht ernsthaft herausgefordert wird. Dass selbst offene Unbeliebtheit kein Hindernis mehr darstellt, sondern ausreicht, um Regieren zu normalisieren, zeigt, wie tief sich Gewöhnung und fehlende Gegenwehr bereits in die politische Kultur eingeschrieben haben.
Wo das Problem liegt, zeigt auch diese Situation: Das Europäische Parlament hat mit einer rechten Mehrheit beschlossen, die Verantwortung für Asylsuchende leichter an Nicht-EU-Staaten auszulagern. Abschiebungen sollen künftig auch in Länder möglich sein, zu denen Betroffene keinerlei Verbindung haben, Schutz soll dort beantragt werden, nicht mehr in Europa. Getragen wurde die Entscheidung von Fraktionen rechts der Mitte, darunter auch der AfD, während Linke, Grüne und Sozialdemokraten unterlagen. Besonders brisant ist die Aufweichung des Schutzes für Kinder und Jugendliche, die nun selbst ohne Bezug in Drittstaaten gebracht werden können, wenn Behörden sie pauschal als Sicherheitsrisiko einstufen. Parallel stimmt das Parlament für eine Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten, um Abschiebungen weiter zu beschleunigen. Inhaltlich markiert das keinen technischen Schritt, sondern eine politische Verschiebung – weg von individueller Prüfung, hin zu Auslagerung und Abschreckung, beschlossen mit Mehrheiten, die früher als unüberbrückbar galten.
Die aktuelle Sonntagsfrage zeigte nur geringe Verschiebungen, aber ein klares strukturelles Problem. Die SPD verliert einen Prozentpunkt, die Grünen gewinnen einen hinzu. Würde jetzt ein neuer Bundestag gewählt, käme die AfD auf 26 Prozent, deutlich über ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl am 23. Februar mit 20,8 Prozent. CDU und CSU lägen bei 24 Prozent. Die SPD käme auf 13 Prozent, die Grünen ebenfalls auf 13 Prozent, die Linke bei 11 Prozent. BSW und FDP spielen keine Rolle.
Auffälliger als die Parteiverschiebungen ist jedoch eine andere Zahl: Der Anteil der Nichtwählerinnen, Nichtwähler und Unentschlossenen liegt aktuell bei 28 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl lag dieser Wert noch bei 17,9 Prozent. Mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten entzieht sich damit dem politischen Prozess oder fühlt sich von keiner Partei angesprochen. Diese Entwicklung erinnert stark an die Situation in den USA. Dort stellten bei der letzten Präsidentschaftswahl rund 89 Millionen Wahlberechtigte die größte „Gruppe“ – größer als jede einzelne Partei. Auch dort war es nicht primär eine massive Mobilisierung neuer Mehrheiten, sondern die politische Ermüdung und der Rückzug vieler Menschen, die rechtspopulistischen Kräften zusätzlichen Raum verschafft haben.
Eine hohe Zahl von Nichtwählenden wirkt nicht neutral. Sie verschiebt das Kräfteverhältnis zugunsten jener Parteien, deren Anhängerschaft besonders geschlossen, unterstützend und mobilisiert ist. In Deutschland profitieren davon derzeit vor allem die AFD. Die Forsa-Zahlen machen deutlich: Nicht nur Wahlergebnisse, sondern auch politische Abwesenheit verändert Mehrheiten – oft still, aber nicht weniger folgenreich.
Man kann uns dafür ablehnen oder die Leserschaft aufkündigen – das nehmen wir in Kauf. Wir schreiben nicht, um zu gefallen, sondern auf Grundlage von Recherche, überprüfbaren Fakten und den Ergebnissen unserer Arbeit. Andere Meinungen respektieren wir, ohne sie übernehmen oder für richtig erklären zu müssen. Aber wir hören zu. Journalismus, der Menschen nach dem Mund redet, bringt vielleicht mehr Unterstützung, verfehlt aber seinen Auftrag. Wir werden auch weiterhin diesen Weg gehen – in den USA und in Europa. Aber eines steht fest, egal welche Meinung man vertritt, am Ende verlieren zuerst die Schwächsten der Gesellschaft. 2025 ein Jahr, das nicht einfach ein Jahr ist, sondern eine Standortbestimmung jeden einzelnen, wo er steht und was er akzeptiert.
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