Es war, als hätte das Land für einen Augenblick den Atem angehalten – und dann in Bewegung gesetzt, was viele für unmöglich hielten. In allen 50 Bundesstaaten, von Alabama bis Arkansas, von den Großen Seen bis zu den High Plains, strömten Millionen auf die Straßen. Rund sieben Millionen Menschen, schätzt man, nahmen am 18. Oktober an den „No Kings“-Protesten teil – einer Demonstrationswelle, die sich quer durch Amerika zog, über politische Grenzen hinweg, und die selbst jene Gegenden erfasste, die Donald Trump noch vor einem Jahr mit überwältigender Mehrheit gewählt hatten.
Die Bilder gingen um die Welt: Familien mit Kindern, Studierende, Veteranen, Großmütter mit selbst bemalten Schildern – „No Kings“, „Liberty for All“, „Democracy Is Not a Brand“. In kleinen Städten wie Brenham in Texas oder Kingsport in Tennessee versammelten sich Hunderte, manchmal Tausende. In den Metropolen Washington, Chicago und Oakland waren es Zehntausende. Es war keine Randbewegung, kein Sturm aus den liberalen Bastionen der Ost- und Westküste, sondern ein Aufstand der Mitte, getragen von jenen, die Trump einst für sich glaubte.

„Sogar meine kleine, konservative Heimatstadt Brenham hat eine ‚No Kings‘-Kundgebung organisiert“, schrieb Ellen Flenniken von der ACLU. „Hundert Menschen, die nicht aufgeben wollten – und die verstanden haben, dass Demokratie nicht von selbst überlebt.“ Solche Sätze fassen zusammen, was in diesen Tagen geschieht: Die amerikanische Gesellschaft, zerrissen, ermüdet, erschöpft, erinnert sich daran, was sie einmal verbunden hat – die Ablehnung jeder Form von Königstum, sei es real oder politisch.

In Pella, Iowa, einer Stadt, in der Trump noch immer über 70 Prozent der Stimmen holte, zogen Menschen mit Pappkronen auf den Köpfen durch die Straßen und riefen: „No kings! No crowns!“ – keine Könige, keine Kronen, Pella, Iowa – einer Stadt, in der Trump fast wie ein König verehrt wird – wagen sich rund 150 Menschen auf die Straße, um „No Kings, No Crowns“ zu rufen. Die meisten sind ältere Frauen, manche über siebzig, die einst keine Kreditkarte ohne männliche Unterschrift besitzen durften und nun für ihre Enkelinnen demonstrieren.

Sie protestieren friedlich, höflich, fast zu höflich – in einer Stadt, die so sauber, still und streng geordnet ist, dass selbst Widerspruch als Unanständigkeit gilt. Doch unter der makellosen Oberfläche liegt Angst und Wut: über das Schweigen, die Spaltung, die Lügen, die selbst Nachbarn gegeneinander aufbringen. Die Protestierenden wissen, dass ihre Stimmen klein sind, fast unhörbar zwischen Tulpen und Backwaren, aber sie sagen sie trotzdem – weil Schweigen schlimmer wäre. Und so ist ihr „Nein“ zu Trump vielleicht leise, doch in seiner Beharrlichkeit lauter als der Lärm derer, die sich an die Ordnung klammern, während die Demokratie bröckelt.
Mehr als während der großen Black-Lives-Matter-Proteste des Jahres 2020, die rund 40 Prozent der Landkreise erfasste.
Eine neue Studie der Harvard Kennedy School bestätigt, dass dies kein flüchtiges Phänomen ist. Unter dem Titel „The Resistance Reaches into Trump Country“ dokumentieren die Forscherinnen und Forscher die vielleicht geografisch breiteste Protestbewegung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Eine neue Studie der Harvard Kennedy School zeigt, dass die „No Kings“-Bewegung längst kein Randphänomen liberaler Städte mehr ist, sondern tief in Trumpland vorgedrungen ist. Forscherinnen und Forscher um Erica Chenoweth und Christopher Shay belegen, dass im Jahr 2025 in über 60 Prozent aller US-Counties Proteste gegen die Regierung stattfanden – mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte. Besonders bemerkenswert ist, dass seit dem Frühjahr 2025 die Mehrheit der Proteste in Landkreisen stattfand, die bei der Wahl 2024 mehrheitlich für Trump gestimmt hatten. Die Bewegung, die im Juni und Oktober Millionen auf die Straße brachte, ist laut Harvard die „geografisch breiteste und zugleich disziplinierteste“ der vergangenen Jahrzehnte: friedlich, ausdauernd, tief verwurzelt in kleinen Städten und ländlichen Regionen. Selbst in Orten, in denen Trump über 80 Prozent der Stimmen erhielt, versammelten sich Dutzende bis Hunderte Menschen – ein leises, aber unübersehbares Signal. Harvard nennt diese Entwicklung ein historisches Novum: Eine Protestbewegung, die aus dem Herzen des konservativen Amerika wächst – und den politischen Boden, auf dem Trump steht, langsam untergräbt
Das Außergewöhnliche daran ist nicht allein die Zahl, sondern der Ort: Der Median jener Landkreise, in denen heute demonstriert wird, hat bei der Präsidentschaftswahl 2024 mehr Stimmen für Donald Trump abgegeben als für Kamala Harris. Mit anderen Worten: Der Protest wächst dort, wo seine Macht am stärksten schien. Am 18. Oktober erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. In allen Zeitzonen, auf Plätzen, Parkplätzen und vor Rathäusern, formte sich ein Bild, das in seiner Größe selbst erfahrene Beobachter überraschte. Mehr als sieben Millionen Menschen zählten die Organisatoren – zwei Millionen mehr als im Juni. Über 2.700 Versammlungen, von Boston bis Bakersfield, von Portland bis Pensacola, machten diesen Tag zu einem der größten Protestmomente, die das Land je erlebt hat. Kein Aufruhr, keine Gewalt, sondern ein Massenbekenntnis zur Republik, getragen von Menschen, die ihre Stimme gegen die Versuchung der Krone erhoben. Und dass dieser Aufstand der Würde nicht in New York oder San Francisco begann, sondern in Orten, in denen Trump einst fast jede Stimme erhielt, machte ihn zu einem Ereignis, das tiefer reichte als jede Schlagzeile – ein Tag, an dem Amerika sich selbst daran erinnerte, wem es gehört.
Die enorme Größe des NoKings-Marsches in Minneapolis war schwer einzufangen, weil er sich über 20 Häuserblocks im zentralen Innenstadtbereich zieht. Hier ist die Spitze – das Ende stand noch immer am US-Bank-Stadion und hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt.
In Kingsport, Tennessee – einer Stadt mit 55.000 Einwohnern in einem Bezirk, der 77 Prozent für Trump stimmte – kamen im Juni über 2.000 Menschen zusammen, im Oktober über 3.500. Auf dem zentralen Platz, zwischen Fast-Food-Ketten und einer stillgelegten Papierfabrik, hielt Kristina Runciman von der Initiative East Tennessee Voices eine einfache, eindringliche Rede: „Amerika wurde gegründet, weil wir keinen König wollten. Und wir wollen auch jetzt keinen König.“
Ihre Worte trafen den Ton, der dieses Jahr prägt – eine Mischung aus Patriotismus und Ungehorsam, aus Angst und Stolz. Die Demonstrierenden trugen keine schwarzen Masken, sondern rote, weiße und blaue Tücher. Manche hatten Trumps Namen auf alten Wahlplakaten durchgestrichen und das Wort Citizen darüber gemalt. In Wyoming, Nebraska und Mississippi rollten Veteranen mit Rollatoren durch die Straßen, junge Mütter trugen Babys auf den Schultern.

Was Harvard als „Protestwelle von beispielloser geografischer Tiefe“ bezeichnet, ist in Wahrheit mehr als eine statistische Kurve. Es ist das erste Anzeichen einer Rückkehr des amerikanischen Gewissens. Seit Beginn von Trumps zweiter Amtszeit hat sich der Anteil der Landkreise mit mindestens einer Anti-Trump-Demonstration stärker erhöht als je zuvor – und übertrifft längst die Protestdichte seiner ersten Amtszeit. Das Entscheidende daran: Die Bewegung kommt nicht von außen. Sie entsteht aus dem Inneren des Landes, aus Regionen, in denen man noch vor kurzem glaubte, Loyalität sei unverrückbar. Aus Kirchen, die einst für ihn beteten. Aus Universitäten, die seine Bildungsreformen tragen mussten. Aus Städten, die von seinen Steuersenkungen profitierten – und jetzt merken, dass Freiheit mehr ist als ein Wahlversprechen.
Die Demonstrationen heißen „No Kings“, doch ihr Hall reicht weiter. Sie sind ein Akt der Selbstbehauptung, ein kollektives Nein zu jener Versuchung, die viele Demokratien erfasst: den starken Mann zu rufen, wenn die Welt kompliziert wird. In den Händen der Menschen liegen keine Waffen, sondern Schilder – und in den Schildern steckt eine Botschaft, die klarer kaum sein könnte: Niemand steht über dem Gesetz. Nicht einmal der, der glaubt, es zu schreiben. Und so könnte die Bewegung, die in Portland begann und nun bis nach Pella, Kingsport und Brenham reicht, zum Wendepunkt werden – nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern für das, was sie im Innersten ausmacht: die Weigerung, sich einem Thron zu beugen.
Warum sind Trumps Umfragewerte stabil?
Trotz des Ballsaal-Skandals und der wiederholten politischen Verwerfungen sind Trumps Zustimmungswerte zuletzt leicht gestiegen – ein Widerspruch, der viel über die Psychologie der Gegenwartspolitik verrät. Der sogenannte Rally-around-the-leader-Effekt greift: Je stärker Trump unter Beschuss steht, desto stärker schließen sich seine Anhänger um ihn. Kritik wird nicht mehr als Aufklärung, sondern als Angriff empfunden. Hinzu kommt eine fragmentierte Medienlandschaft, in der konservative Plattformen den Ballsaal als Symbol nationaler Größe feiern, während ökonomische Themen – Arbeitsmarkt, Börsen, Preise – für viele Wähler entscheidender bleiben als institutionelle Skandale. Der Rest ist Gewöhnung: Nach Jahren permanenter Aufregung stumpft das Publikum ab, und der Maßstab für Empörung verschiebt sich.
Dieses Muster kennt man auch aus Europa. Deutschland macht denselben Fehler: Je lauter das mediale und politische Draufhauen auf die AfD, desto fester zementiert sich deren Wählerschaft. Das Phänomen, das Politikwissenschaftler heute als „Empörungsparadox“ beschreiben, zeigt sich in den USA wie in Deutschland mit verblüffender Klarheit. Je lauter eine Gesellschaft oder ihre Medien auf Populisten einschlagen, desto fester schließen sich deren Anhänger um sie. Der Mechanismus funktioniert diesseits und jenseits des Atlantiks nach demselben Muster – nur mit unterschiedlicher Lautstärke. Kritik, die in moralischer Entrüstung, Spott oder Dauerempörung gipfelt, klärt nicht auf, sie bestätigt. Wer Trump oder die AfD attackiert, liefert ihren Anhängern den Beweis, den sie suchen: „Seht her, sie haben Angst vor uns.“ Jede Schlagzeile, jede Talkshow, die Empörung zur Methode macht, stärkt unfreiwillig das Narrativ vom verfolgten Außenseiter.
Beide Bewegungen leben nicht von politischer Gestaltung, sondern vom Gefühl der Ausgrenzung. Wird dieses Gefühl durch Medienrhetorik weiter befeuert – mit Vokabeln wie „undemokratisch“, „gefährlich“, „rechtsradikal“ –, schweißt es ihre Anhänger erst recht zusammen. Der Ton ersetzt die Auseinandersetzung, das Pathos die Präzision.
Was fehlt, ist die strategische Nüchternheit: Statt Empörung braucht es journalistische Kälte, Geduld und Faktenklarheit von Widersprüchen, ohne moralische Überhöhung, aber belegten Quellen und Dokumenten. Populisten verlieren, wenn sie uninteressant werden. Trump verliert, wenn man ihn nicht mehr als Drama, sondern als Akteure einer Aktenlage behandelt.
Denn Populisten leben nicht vom Widerspruch, sondern von seiner Inszenierung. Solange der Gegner schreit, steht das Publikum hinter dem Clown. Und solange die Empörung das Gespräch ersetzt, wächst ihre Macht im Lärm derer, die sie eigentlich entlarven wollen.
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Sehr klar und nachvollziehbar formuliert. Danke Rainer.
Weiter so US-Bürger gegen Trump und Entourage, und in Deutschland dürfen wir wirklich den „Blaunen“ nicht soviel Raum geben. Ich persönlich lasse mich auf Facebook gar nicht aufs Diskutieren ein. Bringt eh nichts.
Sehr, sehr guter Beitrag. Auch der Teil über Deutschland ist genau richtig. Ich gehe kaum noch auf Facebook, weil ich ich zugemüllt werde mit entweder alles gegen die AFD oder Merz. Das ist übertrieben, fanatisch und vollkommen falsch. Daher bin ich froh, Worte der Vernunft hier zu lesen.