„Unwählbar!“ – Wie Alice Weidel und ein rechtskonservatives Portal eine Verfassungsrichterin zur Zielscheibe machten

VonRainer Hofmann

Juli 17, 2025

Es war keine gewöhnliche Talkshow. Es war ein Kreuzverhör. Ein Lehrstück darüber, wie sich politische Kampagnen in persönlichen Angriffen verdichten – und wie sich eine Juristin, die ihr ganzes Leben der Wissenschaft gewidmet hat, gegen den Strudel aus Halbwahrheiten, emotionaler Aufladung und kalkulierter Skandalisierung behaupten muss. Frauke Brosius-Gersdorf, Professorin für Öffentliches Recht und seit Jahren eine der versiertesten Stimmen im deutschen Verfassungsdiskurs, sollte eigentlich zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Die Union hatte dem Vorschlag zunächst zugestimmt. Doch dann platzte die Wahl. Warum? Nicht etwa wegen juristischer Mängel oder eines fehlenden Verständnisses für den Rechtsstaat. Sondern wegen eines orchestrierten Angriffs, der exemplarisch zeigt, wie schnell Expertise unter ideologisches Feuer geraten kann. Am 16. Juli 2025 saß Brosius-Gersdorf in der ZDF-Sendung von Markus Lanz – nicht als Teil einer Diskussionsrunde, sondern im Einzelinterview. Die Einladung war keine Ehre, sondern eine Verteidigungsschlacht. Im Mittelpunkt: ihre früheren Aussagen zur Impfpflicht, zum AfD-Verbot und zur Rolle des Staates in Krisenzeiten. Die Attacke hatte längst begonnen – auf Plattformen wie nius.de, einem Portal, das seit Monaten durch rechtslastige Narrative auffällt, und über Accounts wie den von Alice Weidel. Die AfD-Fraktionsvorsitzende schrieb: „Vollstreckerin von SPD-Parteibeschlüssen als Verfassungsrichterin? Unwählbar!“ Es ist ein Satz, der entlarvt. Nicht weil er zutrifft, sondern weil er die Strategie offenlegt. Es geht nicht um Rechtswissenschaft. Es geht nicht um das Grundgesetz. Es geht um die systematische Diskreditierung unabhängiger Stimmen – unter dem Deckmantel einer angeblich bedrohten Meinungsfreiheit.

Tatsächlich hat Brosius-Gersdorf nie gefordert, AfD-Wähler „beseitigen“ zu wollen, wie ihr suggeriert wurde. Sie erklärte im Jahr 2024 lediglich, dass ein Parteiverbot das Problem der Anhängerschaft nicht automatisch löse – eine zutreffende, wenn auch unglücklich formulierte Analyse politischer Realität. Sie hat auch nie verlangt, die Impfpflicht über das Parlament hinweg einzuführen, sondern verwies in einer verfassungsrechtlichen Erörterung darauf, dass der Staat auch die Pflicht zum Schutz der Bevölkerung habe – ein Gedanke, der im Kontext der Pandemie millionenfach diskutiert wurde, auch unter CDU-Ministern. Bei Lanz blieb sie sachlich. Ihre Stimme blieb ruhig, selbst als der Moderator mit Vorwürfen aus Plagiatsblogs und Kommentaren aus der Echokammer der AfD konfrontierte. Sie sagte klar: „Jeder Wissenschaftler hat Positionen.“ Das war keine Entschuldigung, sondern ein Bekenntnis zur Verantwortung der Wissenschaft in einer Demokratie. Weidel und ihre Mitstreiter wollen genau das nicht. Ihnen geht es nicht um juristische Qualität, sondern um politische Säuberung. Es geht darum, Richterposten nicht nach Kompetenz, sondern nach Weltanschauung zu besetzen. Es geht darum, die Idee des unabhängigen Verfassungsgerichts durch parteipolitische Linientreue zu ersetzen. Dass nius.de diese Erzählung bereitwillig aufgreift und verstärkt, ist kein Zufall. Der Beitrag des Portals trägt kaum zur Aufklärung bei, sondern rahmt Brosius-Gersdorfs Aussagen selektiv, ohne sie in ihren wissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Es ist die Methode des Framing: Einzelformulierungen werden isoliert, Bewertungen verzerrt, politische Gegner markiert. Die Botschaft: Wer nicht in unser Weltbild passt, gehört nicht ins höchste Gericht.

Was dabei untergeht: Brosius-Gersdorf hat sich in ihrer akademischen Laufbahn wiederholt für die Würde des Menschen stark gemacht, für das Grundrecht auf Bildung, für die Abwehr staatlicher Willkür. Sie ist keine „Vollstreckerin“, sondern eine Denkerin – eine, die das Verfassungsrecht ernst nimmt, auch in unbequemen Zeiten. Am Ende der Sendung sagte sie: Wenn ihre Nominierung dem Ansehen des Verfassungsgerichts schade, würde sie sich zurückziehen. Ein Akt von Größe, den man im politischen Raum selten sieht. Es ist ein bitteres Signal, wenn eine der besten Juristinnen des Landes aus dem Rennen gedrängt wird – nicht durch Argumente, sondern durch die Mechanik eines empörungsgetriebenen Medienapparats. Die Frage, die bleibt: Wollen wir Richterinnen, die nach Recht und Gewissen urteilen – oder solche, die sich der Angst vor Schlagzeilen unterwerfen?

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Carola Richter
Carola Richter
2 Monate zuvor

Diese Geschichte hat mich die letzten Tage beschäftigt. Eine so perfide Hetzcampagne mit mehreren pararellen HetzStrukturen. Wenn es stimmt, was ich gerade gehört habe, wird es keine Sondersitzung geben und die Wahl wird nach den Ferien stattfinden. Mit welchen Kandidat:innen bleibt abzuwarten. Und Söder södert wie immer wieder mit. Die Luft auf der Zugspitze war wohl nicht klar genug.

Lea
Lea
2 Monate zuvor

Ich hoffe, daß sie nicht zurückzieht.

Ela Gatto
Ela Gatto
2 Monate zuvor

Danke für diesen aufrüttelnden Bericht.

Wir müssen aufpassen, dass uns die Demokratie nicht wie in den USA entgleitet.

Die Rechten arbeiten mit Hochdruck daran.

Linda
Linda
2 Monate zuvor

Es ist unfassbar, was diese machtgeile CDU/CSU macht. Sie biedert sich bei der AFD an und stärkt sie damit. Der Pakt ist schon geschlossen und die nächsten Wahlen werden es zeigen! Kommt die AFD mit Hilfe der CDU an die Macht, dann ist Deutschland erledigt!

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